Eine Jeans, ein Sweatshirt, Turnschuhe – und ein Platz im Himmel. Was klingt wie ein modernes Märchen ist Realität geworden: Carlo Acutis, der „Geek Gottes“, wurde am 7. September 2025 in Rom heiliggesprochen. Mit 15 Jahren gestorben, ist er der erste Heilige, der mit Internet aufgewachsen ist – und vielleicht der erste, der digital Seelen stärker bewegt als Kirchenbänke es je könnten.
In einer Welt, in der Heiligkeit oft als verstaubt oder unerreichbar gilt, hat sich ein ganz normaler Teenager zum Hoffnungsträger einer globalen Glaubensgemeinschaft entwickelt.
Was macht ihn so besonders?
Manche Antworten finden sich in einem YouTube-Livestream: Links im Bild – sein aufgebahrter Körper, ruhig und fast unheimlich präsent. Rechts daneben: ein nicht endender Strom von Kommentaren. Menschen aus aller Welt beten zu ihm, bitten um digitale Erleuchtung, spirituelle Führung und persönliche Wunder. „Accorde-moi la connaissance en informatique“, schreibt jemand auf Französisch. „Schenk mir Computerwissen, damit ich meine Familie versorgen kann.“
Carlo, geboren 1991 in London, aufgewachsen in Mailand, starb 2006 an Leukämie. Dass seine Geschichte fast zwei Jahrzehnte später noch Millionen Menschen bewegt, liegt nicht an Heldentaten oder spektakulären Visionen. Sondern daran, dass er einer von ihnen war – und dennoch anders.
Ein Jugendlicher mit WLAN und Weihwasser.
Er war ein ganz normaler Teenager, der gerne Pokémon spielte, Fußball liebte, Freunde hatte. Doch sein Herz schlug früh für den Glauben – obwohl seine Familie nicht besonders religiös war. Mit sieben Jahren empfing er die Erstkommunion, besuchte freiwillig täglich die Messe, engagierte sich für Obdachlose, verschenkte Schlafsäcke, teilte sein Taschengeld mit Bedürftigen.
Und er ging online. Aber nicht zum Zeitvertreib, sondern um zu evangelisieren.
Als Autodidakt baute er eine Website, die weltweit 136 Eucharistische Wunder dokumentierte – eine digitale Schatzkarte des Glaubens. In 15 Sprachen wurde sein Werk übersetzt, später von seinen Eltern weiter verbreitet. Er half Gemeinden beim Aufbau von Homepages, richtete Social-Media-Kanäle für Pfarreien ein und zeigte, dass der Heilige Geist auch durch HTML vermittelt werden kann.
Einige im Vatikan träumen bereits von einem neuen Titel: „Schutzpatron des Internets“. Und damit würde der Heilige Isidor von Sevilla – bisher zuständig für digitale Angelegenheiten – nach über 1.400 Jahren seinen Platz räumen müssen.
Klingt übertrieben?
Nicht für die Menschen, die Carlo als digitalen Heiligen verehren. Bereits 2024 zählte der Bischof von Assisi rund eine Million Pilger an seinem Grab. In den Souvenirshops seiner Heimatstadt konkurriert sein Konterfei inzwischen mit den Ikonen von Franziskus und Klara von Assisi. Es gibt Tassen, T-Shirts, Bücher in 24 Sprachen. Und: Haarsträhnen für 2.000 Euro auf dem Schwarzmarkt – ein Auswuchs, den die Kirche inzwischen strafrechtlich verfolgt.

Hype oder Heiliger?
Diese Frage stellt sich immer dann, wenn sich Spiritualität mit Popkultur vermischt. Doch Carlo war kein Influencer, kein selbsternannter Prophet. Seine Heiligkeit lebt nicht von Show, sondern von Schlichtheit. Kein Märtyrer, kein Wundertäter zu Lebzeiten – nur ein junger Mensch mit einem tiefen Glauben und einem offenen Herzen.
„Man kann sein Leben in 20 Minuten erzählen“, sagt Clémence Pasquier, Religionspädagogin und Autorin. „Und das ist das Gute daran. Es zeigt: Heiligkeit ist kein Ding für Superhelden.“
Genau das scheint die Kirche erkannt zu haben. Mit der Kanonisierung von Carlo Acutis öffnet sie ein neues Kapitel – eines, das nahe an der Lebensrealität junger Menschen liegt. Kein Priestergewand, keine Heiligenpose. Jeans, Hoodie, ein Lächeln. Und eine Botschaft, die sagt: Auch du kannst ein Heiliger sein. Nicht irgendwann. Jetzt.
Zwei Wunder hat der Vatikan Carlo offiziell zugeschrieben – eine Heilung in Brasilien, eine in Costa Rica. Beide Betroffenen hatten sich an ihn gewandt, beide galten als medizinisch austherapiert. Doch selbst diese Wunder sind für viele eher Beiwerk.
„Die Heilungen sind nur die Bestätigung von oben“, sagt Pasquier. „Seine Heiligkeit liegt in seinem Leben.“
Die Botschaft seines Lebens, die heute mehr Menschen erreicht als viele Kirchenpredigten. Vor allem, weil sie noch nicht verklärt ist. Denn Carlo war nicht perfekt. Manche seiner Freunde beschrieben ihn als zurückhaltend in seiner Glaubenssprache – was später in der medialen Erzählung kaum noch vorkommt. Dass seine Mutter, Antonia Salzano Acutis, heute als unermüdliche PR-Kraft im Hintergrund agiert, trägt ebenfalls zur Mythenbildung bei. Sie finanziert Bücher, reist zu Konferenzen, gibt Interviews.
Eine Mutter, die ihren Sohn heilig sieht – mit aller Kraft.
Das mag manchen stören. Es wirft Fragen auf über Nähe, Einfluss, Vermarktung. Doch es zeigt auch eine andere Wahrheit: Wer trauert, sucht Sinn. Wer liebt, will erinnern. Und manchmal ist daraus schon Heiligkeit erwachsen.
Carlo Acutis ist kein Revolutionär, aber eine Zäsur.
Ein Heiliger, der lebte, wo junge Menschen heute leben – im Digitalen. Einer, der zeigt, dass Glaube auch jenseits der Kirchenmauern stattfindet. Und dass Spiritualität kein Relikt der Vergangenheit ist, sondern ein Versprechen für die Zukunft.
Denn wenn ein Teenager mit Laptop und Gebetbuch zur Lichtgestalt einer neuen Generation werden kann – wer sagt dann noch, dass Heiligkeit von gestern ist?
Autor: Andreas M. Brucker
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