Tag & Nacht




Ein Mann im weißen Kittel, ein angesehenes Mitglied der medizinischen Zunft – und zugleich einer der größten Sexualstraftäter der französischen Geschichte. Am 28. Mai 2025 endete in Vannes ein monströser Prozess: Joël Le Scouarnec, ehemaliger Chirurg, wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf? Vergewaltigung und sexuelle Gewalt an 298 Patientinnen und Patienten – viele davon Kinder.

Ein Prozess, der sprachlos macht. Und doch Fragen offenlässt.

Der Schock sitzt tief

Zwanzig Jahre Haft – auf dem Papier die Höchststrafe. Doch die Realität? Schon 2030 könnte Le Scouarnec auf freien Fuß kommen. Aufgrund seiner Untersuchungshaft seit 2017 und einer festgelegten Mindesthaftdauer von nur zwei Dritteln der Strafe. Kaum verwunderlich, dass sich Opferverbände und Angehörige empört zeigen. Ihre Forderung: eine anschließende Sicherungsverwahrung. Doch diese blieb aus.

Die Begründung der Richter? Die „Reue“ des 74-Jährigen und sein hohes Alter. Für viele ein Hohn.

Drei Monate, die Frankreich veränderten

Das Verfahren selbst glich einem düsteren Kapitel französischer Justizgeschichte. Über drei Monate hinweg erzählten mutige Betroffene von den grausamen Übergriffen – viele von ihnen unter Narkose oder in der Aufwachphase operativer Eingriffe. Orte, an denen Menschen Schutz suchen, wurden zu Tatorten.

Entscheidend für den Verlauf des Prozesses: die Tagebücher des Angeklagten. Darin beschrieb er akribisch seine Taten – in einer verstörenden Detailtreue. Ohne diese Aufzeichnungen wären viele Opfer wohl nie identifiziert worden.

Ein Systemversagen mit Ansage?

Wie konnte ein Mann über Jahrzehnte hinweg unbehelligt solche Verbrechen begehen? Wie viele Signale wurden übersehen, wie viele Hinweise ignoriert? Der französische Ärzteverband zeigte sich nach dem Urteil „erschüttert über institutionelle Fehler“. Es sei an der Zeit, Konsequenzen zu ziehen.

Und genau da liegt der Knackpunkt. Dieser Fall ist mehr als ein Verbrechen – er ist ein Weckruf. Für Krankenhäuser, Justiz und Gesellschaft. Denn wer schützt die Schwächsten, wenn nicht die Institutionen, denen wir vertrauen?

Zwischen Wut und Hoffnung

In den Gerichtssälen, auf den Straßen, in den sozialen Medien – die Stimmen sind laut. Viele fordern eine grundlegende Reform im Umgang mit pädokriminellen Straftätern. Es geht nicht nur um Strafe, sondern auch um Prävention, Kontrolle und vor allem: die Perspektive der Opfer.

Einige Opfer haben sich während des Prozesses erstmals öffentlich geäußert. Ihre Botschaft? Mut. Kraft. Und der Wille, nicht länger zu schweigen.

Eine der Klägerinnen sagte im Saal: „Ich will, dass meine Geschichte anderen Mut macht. Dass keiner mehr denkt, er sei allein.“ Ihre Worte hallten länger nach als jedes Plädoyer.

Und nun?

Frankreich steht vor einem Dilemma: Wie geht man mit Tätern wie Le Scouarnec um? Reicht es, sie wegzusperren? Oder braucht es mehr – eine tiefgreifende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Machtmissbrauch, Tabus und Schweigen?

Klar ist: Der Fall Le Scouarnec wird Frankreich noch lange beschäftigen. Nicht nur juristisch, sondern auch moralisch. Er zeigt, wie dünn die Decke der Zivilisation manchmal ist – und wie schnell Vertrauen missbraucht werden kann.

Doch er zeigt auch, wie wichtig es ist, hinzuhören. Und denen eine Stimme zu geben, die viel zu lange zum Schweigen gezwungen waren.

Von Andreas M. Brucker

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