Tag & Nacht


Es war kurz nach zwei Uhr morgens, als in einem kleinen Tal in der Savoie die Natur ihr eigenes Drehbuch schrieb – und es war kein gutes.

Was sich in dieser Novembernacht im verschlafenen Bergdorf Fréterive abspielte, wirkt wie ein Kapitel aus einem Katastrophenfilm: sintflutartige Regenfälle, schmelzender Schnee, ein überlaufender Gebirgsbach – und am Ende eine braune Masse aus Schlamm, Steinen und Ästen, die sich mit erschreckender Wucht durch den Ort fraß.

Mitten in der Nacht kommt die Welle

Alain Gayet wird wach – nicht durch ein Geräusch, sondern durch das dumpfe Grollen, das man fühlt, bevor man es hört. Er öffnet die Tür seines Hauses – und in diesem Moment reißt ihn die Gewalt des Wassers zu Boden. Schlamm strömt in die Wohnräume, Fenster klirren, Möbel schwimmen.

Seine Frau Brigitte steht mit nassen Socken auf dem Sofa, ruft die Feuerwehr. Minuten später helfen Einsatzkräfte den beiden, über Geröll und Lehm zur Straße zu klettern. Ihre Stimmen zittern noch Stunden später, als sie erzählen, wie nah ihnen die Natur gekommen ist.

Ein Dorf im Schockzustand

Am Morgen danach zeigt sich das ganze Ausmaß: Eine Schneise aus Matsch zieht sich durch Fréterive. Die braune Masse steht in Kellern, liegt auf der Straße, füllt Garageneinfahrten. Autos sind bis zur Fensterscheibe eingeschlossen. Eine ganze Hauswand ist unter Steinen und Ästen kaum mehr erkennbar.

Und mittendrin Menschen, die aufräumen, schaufeln, sortieren – mit leerem Blick und durchnässter Kleidung.

Die Ursache? Eine fatale Kombination

Was ist passiert?

Die Antwort liegt oberhalb des Dorfes. Dort, wo sich der Bach Ruisseau de Dom Girard seinen Weg durch die Bergflanke bahnt, hatte sich bereits Anfang November Geröll angesammelt. Der Boden war durchweicht, die Böschung instabil. Als dann tagelanger Regen einsetzte und gleichzeitig ein Temperaturanstieg die Schneeschmelze auslöste, war es nur eine Frage der Zeit, bis der natürliche Damm nachgab.

Und als er das tat, nahm das Wasser alles mit, was locker saß: Steine, Äste, Erde – eine sogenannte „lave torrentielle“, eine zähflüssige, unaufhaltbare Schlammwelle.

Infrastruktur am Limit

Die Naturkatastrophe hat mehr als nur ein Dorf getroffen.

Die Bahnlinie zwischen Chambéry und Albertville – stillgelegt. Ein Teilstück der vielbefahrenen Départementstraße RD 201 – verschüttet. Auch Stromleitungen und Telekommunikationskabel sind betroffen. Der Verkehr in der Region liegt lahm, der Schaden ist immens.

Viele Anwohner sprechen von Glück im Unglück: Niemand kam ernsthaft zu Schaden. Doch was bleibt, ist ein Gefühl von Hilflosigkeit – und viele Fragen.

Wie geht es weiter?

Die Behörden sind vor Ort, der Katastrophenschutz koordiniert die Räumarbeiten. Bagger tragen die schwersten Brocken ab, Pumpen saugen den Lehm aus den Kellern. Einige Familien sind vorübergehend in Gemeindezentren untergebracht, andere bei Verwandten.

Doch wie sicher sind die Häuser? Wie stabil ist das Gelände? Und vor allem: War das ein Einzelfall – oder ein Vorgeschmack?

Klimafaktor Alpenraum

Denn die Wahrheit ist: Solche Ereignisse häufen sich. Der Alpenraum ist sensibel. Starkregen, plötzliche Schneeschmelzen und sich verändernde Permafrostschichten destabilisieren die Hänge. Dort, wo früher eine Lawine pro Jahrzehnt runterkam, drohen heute mehrfach im Jahr Muren und Gerölllawinen.

Die Bewohner wissen das. Und sie leben mit diesem Risiko – meist still, manchmal trotzig. Doch in Nächten wie dieser bricht es hervor: die Angst, das Gefühl der Ohnmacht, die Frage, wie oft man das noch durchstehen kann.

Die Moral der Geschichte?

Vielleicht ist sie noch nicht geschrieben. Vielleicht liegt sie darin, wie ein Dorf zusammenrückt, wenn alles aus den Fugen gerät. Vielleicht aber auch in der Erkenntnis, dass sich Natur nicht bändigen lässt – schon gar nicht, wenn man sie unterschätzt.

Autor: Andreas M. B.

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!