Am ersten Weihnachtstag, während Europa zwischen Plätzchentellern und Jahresrückblicken kurz innehielt, platzte eine Wortmeldung in die politische Ruhe, die so gar nicht nach Besinnlichkeit klang. Pavel Durov, Gründer des Messengerdienstes Telegram, warf Emmanuel Macron vor, aus der Europäische Union einen „digitalen Gulag“ machen zu wollen. Ein schweres Wort, historisch belastet, bewusst gewählt. Und eines, das lange nachhallt.
Durov, russisch-französischer Unternehmer, Digital-Ikone für die einen, problematischer Grenzgänger für die anderen, griff den französischen Präsidenten frontal an. Macron, so die These, wolle angesichts sinkender Popularitätswerte kritische Stimmen im Netz zum Schweigen bringen. Das Mittel dazu: europäische Digitalgesetze, allen voran der Digital Services Act und das viel diskutierte Projekt Chat Control.
Ein Satz, ein Vorwurf – und sofort war er da, der alte Konflikt zwischen politischer Regulierung und digitaler Freiheitsrhetorik. Durov inszeniert sich seit Jahren als Anwalt der unbequemen Stimmen, als Hüter verschlüsselter Kommunikation. Jetzt ging er einen Schritt weiter. Nicht mehr anonyme Bürokraten in Brüssel, sondern der französische Präsident persönlich standen im Fokus.
Der Kern seiner Kritik richtet sich gegen das europäische Verständnis von Verantwortung im Netz. Der Digital Services Act verpflichtet große Plattformen zu stärkerer Moderation, zu schnellerem Eingreifen bei illegalen Inhalten, zu Transparenz gegenüber Behörden. Aus Sicht vieler Regierungen ein überfälliger Ordnungsrahmen. Aus Sicht Durovs ein Einfallstor für staatliche Kontrolle. Wer entscheidet, was gelöscht wird? Wer definiert Desinformation? Und wer garantiert, dass aus Schutz kein Machtinstrument wird?
Noch schärfer fällt seine Ablehnung von „Chat Control“ aus. Der Plan sieht vor, private digitale Kommunikation automatisiert nach strafbaren Inhalten durchsuchen zu lassen – mit dem erklärten Ziel, Kindesmissbrauch und Terrorismus zu bekämpfen. Kritiker sprechen von Massenüberwachung. Befürworter von einer notwendigen Antwort auf neue Formen digitaler Kriminalität. Durov kennt da keine Grautöne. Für ihn kratzt der Vorschlag am Fundament der Privatsphäre. Oder, salopp gesagt: Das geht gar nicht.
In seiner Wortmeldung zielte Durov auch auf einen Mann, der in Brüssel lange als treibende Kraft der europäischen Digitalpolitik galt: Thierry Breton. Der frühere EU-Kommissar für Binnenmarkt und Digitales sei, so Durov, der „Architekt einer europäischen Zensurgesetzgebung“ und ein enger Verbündeter Macrons. Dass ausgerechnet Washington zuletzt mit Visa-Beschränkungen gegen europäische Digitalpolitiker reagierte, verlieh dem Schlagabtausch zusätzliche internationale Schärfe.
Der Zeitpunkt der Attacke wirkt dabei alles andere als zufällig. Durov steht selbst unter Druck. Nachdem er 2021 die französische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, verließ er das Land im Frühjahr 2025 und ließ sich in Dubai nieder. Hintergrund ist ein französisches Ermittlungsverfahren, das Telegram vorwirft, bei der Moderation krimineller Inhalte zu zögerlich zu handeln. Durov weist das zurück, spricht von politischer Motivation, von einem Feldzug gegen sein Unternehmen. Wer ihm zuhört, hört immer auch diese persönliche Note mit.
Das Bild, das Durov zeichnet, ist düster. Europa, einst Wiege der Meinungsfreiheit, drohe sich in einen kontrollierten Kommunikationsraum zu verwandeln. Algorithmen statt Argumente, Filter statt Debatten. Der Begriff „Gulag“ ist dabei mehr als Provokation. Er ist ein rhetorischer Vorschlaghammer, der historische Unterdrückung mit moderner Regulierung kurzschließt. Viele empfinden das als überzogen, manche als geschmacklos. Wirkung entfaltet es trotzdem.
Denn tatsächlich ringt Europa um seinen digitalen Ordnungsrahmen. Der Digital Services Act entstand nicht im luftleeren Raum. Hassrede, Desinformationskampagnen, ausländische Einflussnahme, organisierte Kriminalität – all das prägt den politischen Alltag. Staaten sehen sich in der Pflicht, ihre Bürger zu schützen, auch online. Plattformen hingegen pochen auf technische Neutralität und globale Standards. Zwei Logiken, die nur schwer zusammenfinden.
Durov verkörpert diese Spannung wie kaum ein anderer. Er spricht die Sprache der digitalen Libertären, misstraut staatlichen Eingriffen grundsätzlich und setzt auf Verschlüsselung als Freiheitsgarantie. Gleichzeitig profitiert sein Unternehmen von genau jenen Gesellschaften, deren Regeln er kritisiert. Ein Widerspruch, den seine Anhänger gerne übersehen. Oder locker sagen würden: geschenkt.
Macron selbst reagierte bislang nicht direkt auf Durovs Vorwürfe. In Paris verweist man auf europäische Verfahren, demokratische Kontrolle, rechtsstaatliche Grenzen. Niemand wolle Meinungen unterdrücken, heißt es dort, sondern Straftaten verhindern. Die Gesetze würden diskutiert, angepasst, überprüft. Kein Gulag, sondern Gesetzgebung. Punkt.
Und doch bleibt ein Unbehagen. Wie viel Kontrolle verträgt eine offene Gesellschaft? Wo endet Schutz, wo beginnt Überwachung? Die Debatte, die Durov mit drastischen Worten angefacht hat, reicht weit über seine Person hinaus. Sie berührt das Selbstverständnis Europas im digitalen Zeitalter. Zwischen Silicon Valley, Washington und Brüssel entsteht ein neuer Machtkampf um Regeln, Werte und Einfluss.
Durovs Angriff mag polemisch sein, sein Ton überzogen. Aber er trifft einen wunden Punkt. Die digitale Öffentlichkeit ist längst kein rechtsfreier Raum mehr. Sie ist politisch, ökonomisch, gesellschaftlich umkämpft. Wer dort die Spielregeln schreibt, entscheidet über mehr als Technik. Er entscheidet über Freiheit.
Oder, um es weniger pathetisch zu sagen: Das Netz ist erwachsen geworden. Und mit dem Erwachsenwerden kommen die Konflikte.
Von Andreas M. Brucker
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