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Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat Russland neue Wege gefunden, Sanktionen zu umgehen und seine Ölexporte aufrechtzuerhalten – durch eine sogenannte „Geisterflotte“. Diese Flotte aus alten, oft schlecht gewarteten Öltankern, die unter Billigflaggen fahren, birgt jedoch erhebliche Risiken für die Umwelt. Die jüngste Ölkatastrophe im Kertsch-Straße ist nur ein Beispiel dafür, wie gefährlich diese Praktiken sind. Doch was steckt wirklich hinter dieser Flotte, und warum könnte sie für unsere Ozeane und Küsten eine der größten Bedrohungen der Gegenwart sein?


Der Ursprung der „Geisterflotte“

Das Konzept der „Geisterflotte“ klingt fast wie aus einem Piratenfilm – geheimnisvolle Schiffe, die unter falscher Identität operieren. Doch in der Realität ist es weniger romantisch: Es handelt sich um eine Flotte von mindestens 1.300 Schiffen, die meist unter sogenannten Flaggen der Bequemlichkeit (etwa von Panama oder Liberia) fahren. Diese Praxis erlaubt es den Eignern, strenge Sicherheits- und Umweltvorschriften zu umgehen, da die Kontrollmechanismen in diesen Ländern oft lax sind.

Russland nutzt diese Flotte, um internationale Sanktionen zu umgehen. Seit Dezember 2022, als die EU und der G7-Staaten einen Preisdeckel für russisches Öl von 60 Dollar pro Barrel einführten, hat Moskau stark in diese Schattenschiffe investiert. Mit Hilfe von Strohfirma und Tarnfirmen erwirbt Russland alte, gebrauchte Tanker, die oft weit über 20 Jahre alt sind, und setzt sie für den Transport von Rohöl und Treibstoff ein.

Allein in den letzten Jahren hat Russland nach Angaben der Kiev School of Economics 10 Milliarden Dollar in den Ausbau dieser Flotte gesteckt. Der Clou: Viele dieser Schiffe wechseln ständig ihren Namen, ihre Flagge und den Besitzer – ein geschicktes Verwirrspiel, das den Behörden die Verfolgung erschwert.


Die Katastrophe im Kertsch-Straße: Ein Weckruf?

Die jüngste Ölkatastrophe in der Kertsch-Straße, einem strategisch wichtigen Seeweg zwischen Russland und der Halbinsel Krim, zeigt auf erschreckende Weise, welche Folgen die Aktivitäten der „Geisterflotte“ haben können. Mitte Dezember liefen zwei russische Tanker, der Volgoneft-212 und der Volgoneft-239, auf Grund. Gemeinsam transportierten sie mehr als 8.000 Tonnen Schweröl. Die Schiffe waren nicht mehr seetüchtig, wie selbst das russische Verkehrsministerium einräumen musste, und verfügten zudem über keine gültige Versicherung.

Das Ergebnis: Die größte Ölkatastrophe des 21. Jahrhunderts in Russland. Hunderte Kilometer Küste wurden verseucht, das Ökosystem der Region schwer geschädigt. „Das hätte überall passieren können“, erklärt Eugene Simonov, ein international anerkannter Umweltexperte, der den Vorfall untersucht hat. Besonders brisant: Die Tanker hatten offenbar vor, ihre Fracht auf ein größeres Schiff zu übertragen – eine riskante Praxis, die in der „Geisterflotte“ gang und gäbe ist.


Ship-to-Ship-Transfers: Der Trick, der die Spuren verwischt

Der sogenannte Ship-to-Ship-Transfer (STS) ist eine der häufigsten Methoden, mit denen Russland Sanktionen umgeht. Dabei wird Öl von einem Tanker auf einen anderen übertragen – oft in internationalen Gewässern, weit weg von den Augen der Behörden. Diese Transfers sind zwar nicht illegal, aber in der „Geisterflotte“ werden sie bewusst eingesetzt, um die Herkunft des Öls zu verschleiern.

Ein prominentes Beispiel ist der Öltanker Firn, ein 22 Jahre altes Schiff, das unter panamaischer Flagge fährt. Laut Simonov kann die Firn Ladungen von bis zu 30 kleineren Tankern aufnehmen. Der Tanker steht zudem auf Listen von Organisationen wie Greenpeace und dem ukrainischen Projekt „War Sanctions“, die ihn mit der russischen Reederei Sovcomflot und Tarnfirmen wie Sun Ship Management in Verbindung bringen.

Durch die ständigen Wechsel von Flagge, Namen und Eigentümer wird es extrem schwierig, die Aktivitäten solcher Schiffe zu überwachen. Manche von ihnen schalten sogar ihre Transponder aus – Geräte, die ihre Position und Identität verraten – oder senden gefälschte Daten an die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO). Man könnte fast sagen: Diese Schiffe sind die Chamäleons der Meere.


Alte Schiffe, große Risiken

Ein weiteres Problem: Viele der Schiffe in der „Geisterflotte“ sind schlichtweg alt und in schlechtem Zustand. Mehr als 70% der Schiffe sind älter als 15 Jahre, viele davon sogar über 20. Solche alten Tanker entsprechen oft nicht mehr modernen Sicherheitsstandards. Eine Studie des Europäischen Parlaments warnte kürzlich davor, dass diese Schiffe „nur minimale Vorschriften einhalten“ und daher eine erhebliche Gefahr für die maritime Sicherheit darstellen.

Ein besonders erschreckendes Beispiel war der Tanker Eventin, der kürzlich in der stürmischen Ostsee in Schwierigkeiten geriet. Das Schiff, das fast 100.000 Tonnen Öl transportierte, musste von der deutschen Marine eskortiert werden. Hätte der Tanker Leck geschlagen, hätte eine der schlimmsten Ölkatastrophen Europas drohen können.

Der Experte Isaac Levi vom Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) bezeichnet die „Geisterflotte“ als „tickende Zeitbombe“. Denn wenn es zu einem Unfall kommt, tragen oft die betroffenen Küstenstaaten die finanziellen und ökologischen Folgen – ohne Aussicht auf Entschädigung. Laut einer Analyse des Lloyd’s Register sind 85% dieser Schiffe nicht bei anerkannten Versicherungen registriert, die bei Ölkatastrophen einspringen könnten. Länder wie Dänemark oder Finnland fordern daher bereits, dass die EU eigene Rettungsschiffe bereitstellt, um auf solche Unfälle vorbereitet zu sein.


Eine globale Bedrohung

Die Auswirkungen der „Geisterflotte“ sind jedoch nicht auf Europa beschränkt. Im vergangenen Jahr gab es laut einer Recherche des Nachrichtenportals Politico und der Journalistenorganisation Source Material mindestens neun verdächtige Öllecks, die auf diese Schiffe zurückzuführen sind – unter anderem vor den Küsten von Vietnam, Italien und Mexiko. In diesen Fällen wurde das Öl offenbar absichtlich ins Meer abgelassen, um Frachtkosten zu sparen. Solche Praktiken sind nicht nur illegal, sondern auch ökologisch katastrophal.

Die beteiligten Länder stehen vor einem Dilemma: Einerseits wollen sie den Druck auf Russland erhöhen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Andererseits führen strengere Sanktionen oft dazu, dass Russland noch mehr auf intransparente und gefährliche Methoden zurückgreift – ein Teufelskreis, aus dem es nur schwer ein Entrinnen gibt.


Was können wir tun?

Die „Geisterflotte“ offenbart ein zentrales Problem: die Lücken im globalen Schifffahrtsrecht. Solange es so einfach ist, Schiffe unter Billigflaggen fahren zu lassen oder ihre Identität zu verschleiern, werden Staaten wie Russland, Iran oder Venezuela diese Schwachstellen ausnutzen. Es braucht strengere internationale Kontrollen und eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Ländern, um solche Praktiken zu unterbinden.

Außerdem muss in die Sicherheit auf See investiert werden. Mehr Rettungsschiffe, bessere Überwachungssysteme und härtere Strafen für Umweltverstöße könnten helfen, die Risiken einzudämmen. Doch ohne politische Entschlossenheit bleibt die Gefahr bestehen, dass wir weitere Katastrophen wie in der Kertsch-Straße erleben.


Ein stiller Krieg gegen die Umwelt

Die „Geisterflotte“ ist nicht nur ein Symptom des Ukraine-Kriegs, sondern ein Sinnbild dafür, wie sehr wirtschaftliche Interessen oft über den Schutz der Umwelt gestellt werden. Dabei ist klar: Jeder Unfall, jede absichtliche Verschmutzung belastet die ohnehin schon angeschlagene Gesundheit unserer Ozeane.

Die Frage bleibt: Wie viele Katastrophen müssen noch passieren, bevor die Welt endlich handelt?


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