Wer kennt nicht die alte Faustregel: Muscheln isst man nur in Monaten, die ein „R“ im Namen haben? Diese Regel, die sich seit Generationen durchsetzt, ist vielen von uns in Fleisch und Blut übergegangen. Von September bis April freuen sich Feinschmecker auf Austern, Miesmuscheln und Co. – in den warmen Monaten jedoch heißt es, darauf zu verzichten. Doch woher kommt diese Regel eigentlich? Und warum wird es zunehmend schwieriger, Muscheln zu einem erschwinglichen Preis zu finden?
Schuld ist – wie so oft – der Klimawandel. Die steigenden Temperaturen und die damit einhergehenden Veränderungen in den Ozeanen wirken sich auf Muscheln und deren Lebensräume dramatisch aus. Aber was genau passiert da, und warum spüren wir das im Portemonnaie?
Die Tradition der „R“-Monate: Ein Blick in die Vergangenheit
Die Tradition, Muscheln nur in „R“-Monaten zu essen, hat historische Gründe, die weit über den heutigen Klimawandel hinausreichen. Früher gab es keinen Kühlschrank, keine effektiven Kühlketten – frische Muscheln waren bei warmen Temperaturen ein Risiko. In den Sommermonaten vermehren sich Bakterien, besonders Vibrionen, deutlich schneller, was Muscheln anfällig für Verderb machte. Also entschloss man sich, die Muschelernte in die kühleren Monate zu legen, um auf Nummer sicher zu gehen. Die „R“-Monate – von September bis April – boten demnach eine gewisse Garantie für Frische und Sicherheit.
Doch heute, wo Kühlung kein Problem mehr darstellt, könnte man theoretisch Muscheln das ganze Jahr über genießen. Allerdings – und hier kommt der Klimawandel ins Spiel – verändert sich der Lebensraum der Muscheln so stark, dass sich die Regel, sie nur in den kälteren Monaten zu essen, von einer kulturellen Weisheit wieder zu einer biologischen Notwendigkeit wandelt.
Klimawandel und seine Auswirkungen auf Muscheln
Muscheln sind, wie viele andere Meeresorganismen, auf stabile Umweltbedingungen angewiesen. Sie brauchen bestimmte Wassertemperaturen, Salzgehalte und eine angemessene Sauerstoffversorgung, um zu gedeihen. Die steigenden Temperaturen der Weltmeere führen jedoch zu einer massiven Störung dieser Bedingungen. Die Auswirkungen sind gravierend:
1. Erwärmung der Ozeane:
Wasser, das zu warm wird, stresst die Muscheln. Sie sind darauf angewiesen, eine gewisse Temperaturspanne nicht zu überschreiten. Wird das Wasser zu warm, verlangsamt sich ihr Stoffwechsel, und ihre Schalenbildung wird beeinträchtigt – sie wachsen langsamer und sterben häufiger.
2. Versauerung der Meere:
Mit der steigenden CO₂-Konzentration in der Atmosphäre nimmt auch der CO₂-Gehalt der Ozeane zu, was zur Versauerung führt. Für Muscheln, die auf Kalzium angewiesen sind, um ihre Schalen zu bilden, ist das ein echtes Problem. Sie können ihre Schalen nicht mehr richtig aufbauen, was sie anfälliger für Fressfeinde und andere Umweltstressoren macht.
3. Veränderungen in der Meeresströmung:
Klimaveränderungen stören auch die Meeresströmungen, was die Verteilung von Nährstoffen beeinflusst. Muscheln filtern ihre Nahrung aus dem Wasser – sind die Strömungen gestört, steht ihnen weniger Nahrung zur Verfügung, was sich direkt auf ihre Gesundheit und ihr Wachstum auswirkt.
Diese Faktoren zusammen führen dazu, dass Muschelpopulationen weltweit unter Druck geraten. Und was macht der Markt, wenn ein Produkt knapp wird? Richtig, die Preise steigen.
Der Preisanstieg – ein Symptom der Krise
Der Anstieg der Muschelpreise lässt sich direkt auf die genannten Umwelteinflüsse zurückführen. Zunächst einmal schrumpfen die Muschelbänke, da die Sterblichkeitsrate der Muscheln in vielen Regionen zunimmt. Der Fang von Muscheln wird damit schwieriger und teurer, da entweder weiter entfernte, stabilere Bestände aufgesucht oder künstliche Muschelbänke in Form von Aquakulturen angelegt werden müssen – beides kostspielige Unterfangen.
Hinzu kommt, dass durch die zunehmenden Extremwetterereignisse, wie Hitzewellen oder Stürme, immer wieder ganze Ernten vernichtet werden. Gerade in den heißen Sommermonaten werden Muschelfarmen an der Küste schwer getroffen – nicht selten stehen die Züchter dann vor leeren Körben und einem finanziellen Desaster.
Was passiert mit den „R“-Monaten?
Aber was bedeutet das für die berühmten „R“-Monate? Verliert die Regel durch die Veränderungen im Klima ihre Bedeutung? Oder wird sie in Zukunft vielleicht noch relevanter? Nun, paradoxerweise könnte sich die alte Faustregel in den kommenden Jahrzehnten wieder stärker durchsetzen – allerdings aus anderen Gründen.
Muscheln könnten sich aufgrund der Erwärmung der Meere zunehmend aus den traditionellen Fanggebieten zurückziehen. Die kühleren „R“-Monate werden vielleicht bald die einzigen Monate sein, in denen Muscheln überhaupt in bestimmten Gebieten gedeihen können. Wir könnten uns also in einer kuriosen Situation wiederfinden: Eine jahrhundertealte Regel gewinnt durch den Klimawandel eine neue Daseinsberechtigung – allerdings nicht, weil der Verzehr an einem heißen Sommertag Muscheln gefährlicher macht, sondern weil der Klimawandel das Meeresleben in eine solche Schieflage bringt.
Soziale Ungerechtigkeit: Muscheln nur noch für die Reichen?
Es wäre aber naiv, nur über den Verlust des Genusses von Muscheln zu sprechen, ohne die größeren sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu betrachten. In vielen Küstenregionen weltweit sind Muscheln nicht nur eine Delikatesse, sondern auch ein Grundnahrungsmittel und eine Einkommensquelle für Fischer und Züchter. Wenn diese durch den Klimawandel immer weniger ernten können oder ihre Muschelfarmen zerstört werden, hat das gravierende Auswirkungen auf die Lebensgrundlage von Menschen.
Und wie bei so vielen Folgen des Klimawandels trifft es die ärmsten Bevölkerungsgruppen am härtesten. Während sich wohlhabende Verbraucher in Europa oder den USA die steigenden Preise für Muscheln noch leisten können – vielleicht als luxuriöse Ausnahme bei einem teuren Restaurantbesuch – müssen viele Menschen in ärmeren Regionen um ihre Existenz kämpfen, wenn ihre Muschelfarmen zugrunde gehen oder der lokale Markt kollabiert.
Was können wir tun?
Wie immer stellt sich die Frage: Was kann man tun, um die Situation zu verbessern? Natürlich geht es bei den Muscheln um ein Symptom eines viel größeren Problems – des Klimawandels und seiner Folgen für die Meere. Eine Reduktion der CO₂-Emissionen ist der Schlüssel, um die Erwärmung und Versauerung der Ozeane zu stoppen. Ohne diese Maßnahmen wird es schwer, die Muscheln, die Meere – und letztlich uns selbst – zu schützen.
Doch auch im Kleinen kann man sich engagieren. Der Konsum von nachhaltig gezüchteten Muscheln aus Aquakulturen, die weniger belastend für die Umwelt sind, kann ein Schritt in die richtige Richtung sein. Allerdings muss auch hier sichergestellt werden, dass diese Zuchtanlagen ökologisch und sozial verantwortungsvoll betrieben werden – was auch oft nicht der Fall ist.
Eine andere Möglichkeit wäre, auf lokale Muschelarten umzusteigen und so den Bedarf an importierten Muscheln zu verringern. Regionale Fischereien, die umweltfreundliche Methoden anwenden, könnten langfristig stabilere Lieferketten aufbauen – vorausgesetzt, sie erhalten die nötige politische und wirtschaftliche Unterstützung.
Fazit?
Vielleicht sollten wir uns von der Idee lösen, dass Muscheln immer und überall verfügbar sind. Die „R“-Monate könnten bald wieder zur festen Regel werden, und Muscheln könnten zu einer seltenen Delikatesse werden, die uns nicht nur an den Geschmack des Meeres, sondern auch an die Dringlichkeit erinnert, unseren Planeten zu schützen. Ob das eine Zukunft ist, die wir uns wünschen? Wohl kaum – aber es ist eine, die auf uns zukommt, wenn wir nicht endlich die Notbremse ziehen.
Es grüßt die Redaktion von Nachrichten.fr
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!