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Die Europäische Union steht vor einer sicherheitspolitischen Zäsur. Angesichts wachsender geopolitischer Spannungen und der zunehmenden Unsicherheit über die langfristige Unterstützung der USA für die Ukraine hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen ehrgeizigen Plan zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit Europas vorgestellt. Der „Plan zur Wiederaufrüstung Europas“ sieht vor, nahezu 800 Milliarden Euro zu mobilisieren, um die militärischen Kapazitäten der EU-Mitgliedsstaaten zu erhöhen.

Kernpunkte des Plans

Der Plan umfasst mehrere zentrale Elemente:

  • Lockerung der Schuldenregeln
    Um den Mitgliedsstaaten zu ermöglichen, ihre Verteidigungsausgaben signifikant zu erhöhen, sollen die strikten EU-Schuldenregeln gelockert werden. Dies würde es den Staaten erlauben, mehr in ihre militärischen Kapazitäten zu investieren, ohne Sanktionen wegen übermäßiger Defizite befürchten zu müssen.
  • Bereitstellung von Krediten
    Ein neuer Fonds in Höhe von 150 Milliarden Euro soll eingerichtet werden, um den Mitgliedsstaaten Kredite für gemeinsame Verteidigungsprojekte bereitzustellen. Diese Mittel könnten für die Beschaffung von Raketen, Luftabwehrsystemen, Drohnen und Artilleriesystemen verwendet werden.
  • Umwidmung bestehender EU-Fonds
    Es wird geprüft, ob Mittel aus bestehenden EU-Fördertöpfen, wie dem Kohäsionsfonds, für Verteidigungszwecke genutzt werden können. Dies würde zusätzliche finanzielle Ressourcen für militärische Investitionen erschließen.
  • Einbindung der Europäischen Investitionsbank (EIB)
    Die EIB soll ihre Finanzierungsmöglichkeiten erweitern, um auch Verteidigungsprojekte zu unterstützen. Dazu könnte eine Anpassung ihrer aktuellen Kreditvergabepolitik erforderlich sein, die bisher militärische Vorhaben weitgehend ausschließt.
  • Mobilisierung privaten Kapitals
    Durch gezielte Anreize sollen private Investitionen in den Verteidigungssektor gefördert werden, um die finanziellen Mittel weiter zu erhöhen. Dies könnte durch Steuererleichterungen oder Garantien für Unternehmen erfolgen, die in Rüstungsprojekte investieren.

Reaktionen und Herausforderungen

Die Reaktionen auf von der Leyens Vorschlag sind gemischt. Während einige Mitgliedsstaaten die Notwendigkeit einer verstärkten europäischen Verteidigung betonen, äußern andere Bedenken hinsichtlich der Finanzierung und einer möglichen Militarisierung der EU. Besonders die geplante Lockerung der Schuldenregeln sorgt für Kontroversen, da einige Länder befürchten, dass dies die finanzpolitische Stabilität der Eurozone gefährden könnte.

Auch die Frage der Rüstungsindustrie spielt eine zentrale Rolle. Derzeit sind die Produktionskapazitäten europäischer Hersteller begrenzt, was bedeutet, dass ein massiver Anstieg der Verteidigungsausgaben nicht sofort zu einer substanziellen Erhöhung der militärischen Schlagkraft führen würde. Experten warnen zudem davor, dass eine verstärkte Abhängigkeit von externen Rüstungslieferanten, insbesondere aus den USA, der europäischen Souveränität zuwiderlaufen könnte.

Die Bedeutung für die Ukraine und die NATO

Ein zentraler Bestandteil des Plans ist die direkte Unterstützung der Ukraine. Von der Leyen betonte, dass ein Teil der zusätzlichen Verteidigungsausgaben in Form von Waffenlieferungen an Kiew erfolgen soll. Dies soll sicherstellen, dass die Ukraine ihre Verteidigungsfähigkeit gegenüber Russland aufrechterhalten kann – insbesondere in einer Zeit, in der die Zukunft der US-Hilfe ungewiss ist.

Gleichzeitig wirft das Vorhaben Fragen über das Verhältnis der EU zur NATO auf. Während einige Stimmen argumentieren, dass eine militärisch stärkere EU auch die transatlantische Partnerschaft stärken würde, sehen Kritiker die Gefahr einer Fragmentierung der europäischen Verteidigungsstruktur. Länder wie Polen und die baltischen Staaten, die traditionell stark auf die NATO setzen, befürchten eine Schwächung des Bündnisses, falls die EU eine eigenständige Verteidigungsagenda vorantreibt.

Ein Paradigmenwechsel in der EU-Sicherheitspolitik?

Der von der Kommission vorgeschlagene Plan könnte eine historische Wende in der europäischen Sicherheitspolitik einläuten. Jahrzehntelang galt die EU vor allem als wirtschaftlicher und diplomatischer Akteur, während die militärische Verteidigung fast ausschließlich der NATO überlassen wurde. Mit dem „Plan zur Wiederaufrüstung Europas“ signalisiert Brüssel nun, dass es bereit ist, eine aktivere Rolle in der Sicherheitspolitik zu übernehmen.

Ob dieser Wandel gelingt, wird letztlich von der Bereitschaft der Mitgliedsstaaten abhängen, den Plan finanziell und politisch mitzutragen. Die kommenden Monate dürften entscheidend dafür sein, ob die EU tatsächlich den Schritt hin zu einer stärkeren militärischen Eigenständigkeit vollzieht oder ob die vorgeschlagenen Maßnahmen auf Widerstand stoßen.

Von Andreas Brucker

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