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Die transatlantischen Beziehungen stehen vor einer tektonischen Verschiebung. Während sich Europa und Kanada in der Vergangenheit als selbstverständliche Verbündete der Vereinigten Staaten betrachteten, zwingt die Politik von Donald Trump beide Seiten zu einer Neubewertung ihrer strategischen Ausrichtung. Kanada, traditionell eng mit Washington verbunden, sieht sich durch protektionistische Maßnahmen und eine offene Annexionsrhetorik zunehmend isoliert. In dieser neuen Realität gewinnt die Annäherung an Europa an Attraktivität – eine Entwicklung, die fundamentale geopolitische Konsequenzen haben könnte.

Ein strategischer Bruch zwischen Washington und Ottawa

Lange galt Kanada als verlängerte wirtschaftliche und politische Achse der USA. Gemeinsame Interessen, historische Bande und tief verwurzelte Handelsbeziehungen bildeten das Fundament der Partnerschaft. Doch die zweite Amtszeit Donald Trumps stellt diese Grundfesten infrage. Seine Regierung hat die wirtschaftlichen Beziehungen zu Kanada durch Zollerhebungen auf zentrale Exportgüter wie Stahl und Aluminium massiv belastet. Darüber hinaus setzt Trump mit der wiederholten Behauptung, Kanada wäre als 51. Bundesstaat der USA besser aufgehoben, bewusst eine provokative Rhetorik ein. Diese Worte bleiben nicht folgenlos.

Der neue kanadische Premierminister Mark Carney brachte die wachsende Verunsicherung in Ottawa auf den Punkt: „Die Amerikaner wollen unsere Ressourcen, unser Wasser, unser Land. Wenn sie Erfolg haben, wird das unsere Lebensweise zerstören.“ Auch die kanadische Außenministerin Mélanie Joly fand deutliche Worte: „Wenn die USA dies mit uns tun können, dann ist niemand sicher.“ Die harsche Reaktion zeigt, dass Ottawa die Bedrohung ernst nimmt – und zunehmend nach Alternativen sucht.

Europa als neuer strategischer Partner?

Parallel zur Verschlechterung der US-kanadischen Beziehungen gewinnt die europäische Option an Bedeutung. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass eine relative Mehrheit der Kanadier einen Beitritt zur Europäischen Union beürworten würde. Der Gedanke mag unorthodox erscheinen, doch er hat eine wirtschaftliche und kulturelle Logik. Kanada unterhält bereits ein weitreichendes Freihandelsabkommen mit der EU und teilt mit Europa fundamentale Werte wie Multilateralismus, Rechtsstaatlichkeit und eine liberale Wirtschaftsordnung.

In Brüssel beobachtet man diese Entwicklung mit Wohlwollen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas äußerten ihre Unterstützung für Kanada und betonten die enge transatlantische Verbundenheit. Die Europäische Kommission begrüßte die Umfrageergebnisse und sieht darin ein Zeichen der Attraktivität der EU. „Es zeigt die Wertschätzung eines sehr großen Teils der kanadischen Bevölkerung für die EU und ihre Werte,“ so eine Sprecherin von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Vergeltungszölle und eine neue Handelspolitik

Sowohl Kanada als auch die EU haben als Reaktion auf die US-Zollpolitik Gegenmaßnahmen ergriffen. Die verhängten Vergeltungszölle sind nicht nur eine wirtschaftspolitische Antwort, sondern auch ein symbolischer Akt der Selbstbehauptung gegenüber Washington. Experten betonen, dass Ottawa seine Handelsbeziehungen diversifizieren muss, um nicht mehr einseitig von den USA abhängig zu sein.

Teona Lavrelashvili vom Martens Centre in Brüssel fasst die Lage pragmatisch zusammen: „Ottawa muss sich auf eine Welt vorbereiten, in der Washington weniger verlässlich ist. Eine engere Anbindung an Europa ist nicht nur strategisch sinnvoll, sondern essenziell.“

Die Unsicherheit der US-Politik

Die Trump-Regierung verfolgt weiterhin einen nationalistischen Wirtschaftskurs, der nicht nur Kanada, sondern auch Europa vor Herausforderungen stellt. Jüngst drohte Trump erneut mit Strafzöllen auf europäische Alkoholimporte und behauptete, die EU sei „allein zum Zweck gegründet worden, um die USA auszunutzen.“ Seine aggressive Handelspolitik bleibt dabei nicht ohne Folgen. Der US-Aktienmarkt hat in den vergangenen Tagen deutlich nachgegeben, und die Sorge vor einer neuen Rezession nimmt zu.

Viele Ökonomen bezweifeln die Wirksamkeit der protektionistischen Maßnahmen. Chad Bown und Douglas Irwin analysierten in Foreign Affairs: „Zölle können bestimmte nationale Ziele erreichen, sind aber selten das effizienteste Instrument. Sie führen häufig zu erheblichem Kollateralschaden, und Vergeltungsmaßnahmen können jeden anfänglichen Vorteil zunichtemachen.“

Diese Einschätzung teilen auch internationale Beobachter. Kevin Rudd, Australiens Botschafter in Washington, sieht eine tiefgreifende Veränderung in der US-Außenpolitik. „Wir erleben eine fundamental neue strategische Haltung dieser Trump-Regierung, die eine Herausforderung für alle verbündeten Nationen darstellt,“ sagte er in einem Interview.

Eine neue transatlantische Realität

Die geopolitischen Verschiebungen der vergangenen Monate zeigen, dass die internationale Ordnung in Bewegung ist. Kanada, einst fester Bestandteil des nordamerikanischen Wirtschaftsraums, stellt sich zunehmend die Frage, ob Europa eine stabilere Alternative bieten kann. Die EU wiederum hat in Kanada einen potenziellen Partner gefunden, der ihre Werte teilt und bereit ist, sich gegen eine unberechenbare US-Politik neu zu positionieren.

Die kommenden Jahre werden zeigen, ob sich diese Annäherung vertieft oder ob Washington Ottawa wieder in seinen Einflussbereich zurückziehen kann. Doch eines steht bereits jetzt fest: Die alte transatlantische Ordnung, in der die USA die unangefochtene Vormachtstellung innehatten, gehört der Vergangenheit an.

Autor: MAB

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