Ein neues Kapitel europäischer Rechtsprechung nimmt Gestalt an: 25 der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union schließen sich einem Sondertribunal an, das die Verbrechen der russischen Aggression gegen die Ukraine untersuchen soll. Was lange als diplomatische Idee galt, rückt damit greifbar näher – ein internationales Gericht, das politische und militärische Verantwortliche in Moskau für den Angriffskrieg zur Rechenschaft ziehen soll.
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas machte die Entscheidung nach einem Treffen der Außenminister öffentlich. Ihre Worte klangen nüchtern, fast sachlich – und doch schwang darin ein historischer Moment mit. „Das bringt uns dem Beginn der Arbeit des Tribunals ein Stück näher“, sagte sie. „Natürlich warten wir noch auf alle Kostenschätzungen, auch aus den Niederlanden, doch dann können wir voranschreiten.“
Der Sitz des Tribunals wird in Den Haag liegen – jener Stadt, in der bereits der Internationale Strafgerichtshof residiert. Dass ausgerechnet dort die Verantwortung für den größten Krieg auf europäischem Boden seit 1945 untersucht werden soll, ist Symbol und Signal zugleich.
Ein Gericht gegen Straflosigkeit
Die Idee eines Sondertribunals war am 9. Mai 2025 von den EU-Außenministern und hochrangigen Vertretern der Mitgliedsstaaten beschlossen worden. Es soll die „Verbrechen der Aggression“ durch Russlands politische und militärische Führung dokumentieren und juristisch verfolgen – eine Kategorie, die im internationalen Recht selten Anwendung findet, weil sie die höchste Ebene politischer Verantwortung betrifft.
Kallas betonte, dass das Regime von Wladimir Putin für die von Russland ausgelöste Kriegshandlung „zur Rechenschaft gezogen werden muss“. Worte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Denn bislang bleibt die politische Verantwortung für den Angriff auf die Ukraine juristisch weitgehend ungesühnt – der Internationale Strafgerichtshof nämlich konzentriert sich primär auf Kriegsverbrechen, nicht auf den Akt der Aggression selbst.
Doch kann ein Tribunal dieser Art tatsächlich wirksam sein, solange Russland selbst nicht kooperiert? Oder geht es hier vor allem um ein politisches Signal – eine juristische Linie, die zeigt, dass Europa sich dem Völkerrecht verpflichtet fühlt, auch wenn der Täterstaat unbeeindruckt bleibt?
140 Milliarden für die Ukraine – mit russischem Geld
Neben juristischen Schritten steht auch das Finanzielle im Fokus. Die EU arbeitet an einem Plan, eingefrorene russische Vermögenswerte als Sicherheit für einen Reparationskredit an die Ukraine zu nutzen – ein Vorschlag, der von der EU-Kommission bereits vorbereitet wird.
„Diese Initiative genießt breite Unterstützung“, sagte Kallas. „Ein solcher Kredit würde ein starkes Signal nach Moskau senden: dass Russland uns nicht einfach aussitzen kann.“
Die Kommission plant, rund 140 Milliarden Euro freizusetzen – ein Kredit, der aus Zinsen und Erträgen der eingefrorenen Gelder gespeist werden soll. Diese Mittel sollen sowohl für militärische Unterstützung als auch für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden. Der Begriff „Reparationsdarlehen“ markiert dabei bewusst eine politische Linie: Es geht nicht um gewöhnliche Hilfe, sondern um Wiedergutmachung.
Juristisch ist das Terrain jedoch heikel. Die Nutzung fremdstaatlicher Vermögenswerte für Reparationen steht völkerrechtlich auf dünnem Eis – dennoch drängt Brüssel auf eine Lösung.
Kampf gegen die russische „Geisterflotte“
Ein weiterer Punkt auf der Agenda: die sogenannte „Flotte fantôme“ – die Geisterflotte Russlands. Dabei handelt es sich um hunderte Tanker, die unter fremden Flaggen fahren, nicht registriert sind und westliche Sanktionen umgehen, indem sie russisches Öl über Drittländer exportieren.
Diese Schattenflotte ist nicht nur ein ökonomisches, sondern zunehmend auch ein sicherheitspolitisches Problem. Einige dieser Schiffe werden verdächtigt, in der Ostsee Unterseekabel beschädigt zu haben.
Kaja Kallas kündigte an, die EU werde künftig entschlossener gegen diese Praxis vorgehen. „Ich habe einen Sonderbeauftragten ernannt, der die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten koordiniert“, erklärte sie. „Wir müssen auf EU-Ebene konsequenter gegen die Geisterflotte vorgehen – auch, um Russlands Kriegskasse weiter auszutrocknen.“
Parallel dazu arbeitet die EU-Kommission bereits am 20. Sanktionspaket gegen Russland – während das 19. Paket noch auf seine endgültige Verabschiedung wartet.
Streit um das 19. Sanktionspaket
Am 19. September legte die Kommission den Entwurf des neuen Sanktionspakets vor. Es umfasst Maßnahmen in den Bereichen Energie, Finanzen und militärische Technologie – darunter ein vollständiges Transaktionsverbot für Rosneft und Gazpromneft, sowie das Einfrieren weiterer Unternehmensvermögen.
Doch nicht alle Mitgliedsstaaten ziehen an einem Strang. Vor allem die Slowakei hat Bedenken, insbesondere in den Bereichen Energie und Automobilindustrie. „Sie erpressen uns in anderen Fragen“, zitierte ein EU-Diplomat aus den internen Diskussionen.
Trotz solcher Reibungen zeigen sich Brüsseler Kreise optimistisch. Die Verhandlungen seien „auf gutem Weg“, heißt es – auch wenn die finalen Details des Sanktionspakets bislang unter Verschluss bleiben.
Europa zwischen Recht und Realität
Mit dem geplanten Tribunal und den neuen Sanktionen will die Europäische Union zweierlei erreichen: Gerechtigkeit und Druck. Gerechtigkeit für die Opfer des Krieges – und Druck auf den Aggressor, der noch immer auf Eskalation setzt.
Doch die Balance zwischen juristischem Anspruch und politischer Wirkung ist fragil. Ohne internationale Anerkennung und Mitwirkung großer Partner wie der USA oder des Vereinigten Königreichs könnte das Tribunal am Ende mehr Symbol als Gericht sein.
Und doch: Symbole haben Macht. Sie setzen Maßstäbe, wo bisher Schweigen herrschte. Vielleicht liegt genau darin die Stärke Europas – nicht in der Wucht der Waffen, sondern in der Beharrlichkeit des Rechts.
Von C. Hatty
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