Tag & Nacht




Manchmal genügt ein einzelner Fall, um eine ganze Politik zum Einsturz zu bringen. Genau das erlebt Frankreich gerade – mit einem humanitären Programm, das eigentlich Leben retten sollte. Seit dem 1. August 2025 sind die Evakuierungen von Palästinensern aus dem Gazastreifen ausgesetzt. Grund dafür: Antisemitische Aussagen einer jungen Frau, die erst vor Kurzem nach Frankreich gebracht wurde.

Nour A., eine Studentin aus Gaza, sollte an der renommierten Sciences Po in Lille studieren. Nun wird gegen sie wegen Verteidigung des Terrorismus und Verherrlichung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt. Die Empörung war groß – die Reaktion des französischen Außenministeriums noch größer: Evakuierungsstopp. Auf unbestimmte Zeit.

Ein symbolischer Akt? Sicherlich. Aber mit verheerenden Folgen.

Was ein Facebook-Post auslösen kann

Dass Frankreich ausgerechnet jetzt die Reißleine zieht, überrascht. Seit Beginn des Kriegs zwischen Israel und der Hamas im Oktober 2023 hatte das Land Hunderte Palästinenser aufgenommen – Verwundete, Studenten, Kinder, Forscher. Eine stille, aber bemerkenswerte Geste der Menschlichkeit, angesichts der katastrophalen Lage in Gaza: Hungersnot, zerstörte Infrastruktur, kaum medizinische Versorgung.

Nun steht dieses Rettungsprogramm still. Und zwar nicht wegen eines strukturellen Sicherheitsversagens oder neuer Bedrohungslagen, sondern wegen der fragwürdigen Social-Media-Aktivitäten einer einzelnen Person. Eine fatale Gleichsetzung, bei der das Kollektiv für das Individuum haftet.

Das Leben anderer – plötzlich ausgesetzt

Man stelle sich vor: Man sitzt in Rafah, Khan Yunis oder Gaza-Stadt. Ein Visum wäre das rettende Ticket, ein Flugzeug in eine neues Leben. Und dann: alles eingefroren. Ausgesetzt. Ungewiss.

Genau das geschieht jetzt. Für Dutzende, wenn nicht Hunderte Palästinenser, die bereits auf Ausreise warteten, ist die Entscheidung aus Paris ein Schock. Hilfsorganisationen wie La Cimade schlagen Alarm. Auch französische Politiker wie Arthur Delaporte sprechen von einem „Mangel an Augenmaß“ und einem „Versagen unserer gemeinsamen Menschlichkeit“. Starke Worte – und bittere Wahrheiten.

Zwischen Wachsamkeit und Verantwortung

Natürlich steht der französische Staat in der Pflicht, für Sicherheit zu sorgen. Antisemitische Hetze darf nicht verharmlost werden – gerade nicht im Schatten des 7. Oktober 2023. Es ist nachvollziehbar, dass die Behörden ihre Prüfmechanismen hinterfragen, insbesondere wenn offensichtliche Lücken zum Vorschein kommen.

Doch hier stellt sich eine viel grundlegendere Frage: Darf man ein humanitäres Rettungsprogramm vollständig pausieren, weil eine Person die Regeln bricht?

Oder anders gesagt: Wie viele Unschuldige darf man auf dem Altar der politischen Symbolik opfern?

Das fragile Gleichgewicht

Jean-Noël Barrot, Frankreichs Außenminister, sprach von „notwendiger Revision“ der Sicherheitsprozeduren. Ein Schritt zurück – um zwei vorwärts zu machen? So zumindest die Hoffnung. Aber in der Realität ist der Schaden längst angerichtet. Vertrauen zerstört. Leben gefährdet. Existenzen auf Eis gelegt.

Frankreich steht an einem Scheideweg. Der Schutz jüdischen Lebens und das konsequente Vorgehen gegen jede Form von Hass sind nicht verhandelbar – ebenso wenig wie die Pflicht, Menschen in akuter Not beizustehen. Es braucht keinen Kompromiss, sondern kluges Abwägen.

Die Logik des Ausnahmefalls darf nicht zur Regel werden

Es wäre fatal, wenn ausgerechnet ein humanitärer Skandal dazu führt, dass Humanität selbst auf der Strecke bleibt. Die Welt schaut auf Europa – und auf Frankreich. Was jetzt nötig ist, sind klare Kriterien, robuste Kontrollen, aber auch ein kühler Kopf.

Die Aussetzung der Evakuierungen war ein Reflex. Die Wiederaufnahme sollte eine bewusste Entscheidung sein – schnell, differenziert, verantwortungsvoll.

Denn der moralische Kompass eines Landes zeigt sich nicht in den Reaktionen auf Skandale, sondern im Umgang mit den Schwächsten, wenn niemand hinsieht.

Von C. Hatty

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