Eine kleine Tür. Ein dicker Plastikvorhang. Und dann ein Kälteschock: minus 15 Grad. Im Institut für Umweltgeowissenschaften in Grenoble, wo draußen Frühling herrscht, beginnt drinnen eine Reise in die Vergangenheit unseres Planeten. Patrick Ginot, ein erfahrener Glaziologe, öffnet vorsichtig eine Isolierbox und holt einen zylindrischen Eisblock heraus – eine sogenannte Eiskernprobe. Nicht einfach ein Stück Eis, sondern ein echter Schatz. Denn dieser Zylinder, knapp zehn Zentimeter dick, stammt tief aus einem Gletscher und erzählt Geschichten, die bis zu 800.000 Jahre zurückreichen.
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Genau darum geht es bei „Ice Memory“ – einem ehrgeizigen Projekt, das von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ins Leben gerufen wurde, um solche Eiskerne vor dem endgültigen Schmelzen zu bewahren. Denn: Was in den Gletschern steckt, lässt sich nicht einfach rekonstruieren, wenn es einmal verloren ist.
„Man kann wirklich sagen, wir verlieren gerade ein ganzes Archiv“, warnt Catherine Larose vom CNRS. Und diese Archive sind mehr als kalte Klötze – sie enthalten eingefrorene Luftbläschen, Wassermoleküle und Mikroorganismen aus vergangenen Jahrtausenden.
Luftblasen, Pipetten und echte Handarbeit
Das Labor in Grenoble gleicht eher einer Mischung aus Hightech-Werkstatt und Zauberküche. Überall stehen Glasröhrchen, Pipetten, Analysegeräte – viele davon selbstgebaut. Warum? Weil es schlicht niemanden sonst gibt, der solche Messinstrumente für Gletscherforschung herstellt. Die Proben werden geschmolzen, analysiert, gefiltert. Und während das Eis taut, entweichen Gase, die einst Teil der Atmosphäre waren – pure Zeitkapseln.
„In diesen Luftblasen stecken Spuren von Vulkanen, Industrieemissionen und Klimaschwankungen“, erklärt Patrick Ginot. Über Jahre hinweg haben er und seine Kolleginnen zwei entscheidende Kurven erstellt: eine zeigt die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre, die andere den Temperaturverlauf über Hunderttausende Jahre. Legt man beide übereinander – entsteht ein beunruhigend klares Bild.
Was sagen uns diese alten Geschichten?
Das Spannende: Diese Daten sind nicht bloß historische Spielereien. Sie helfen, die Auswirkungen unseres heutigen Handelns besser zu verstehen. Oder wie es Ginot ausdrückt: „Wenn wir wissen wollen, was CO₂ wirklich mit dem Klima macht, müssen wir zurückblicken.“
Aber nicht nur Klimadaten stecken in den Eiskernen. Catherine Larose untersucht darin auch uralte Mikroorganismen – Bakterien, Algen, Viren. „Da ist echt Leben drin“, sagt sie mit leuchtenden Augen. Und dann wird es fast philosophisch: Was erzählt uns dieses Leben? Wie haben sich Mikroben nach einem Vulkanausbruch verändert? Was passierte mit ihnen, als der Mensch begann, Quecksilber in die Atmosphäre zu blasen?
Klingt nach Science-Fiction – ist aber Realität
Manche der gefundenen Organismen könnten sogar dabei helfen, heutige Probleme zu lösen. Mikroben, die in Trockenzeiten überlebt haben, könnten womöglich Pflanzen helfen, Dürrephasen zu überstehen. Verrückt? Vielleicht. Aber auch genial.
Doch während die Wissenschaft neue Türen öffnet, fällt eine andere gerade krachend zu: Die Gletscher selbst verschwinden. Und zwar schneller, als es vielen bewusst ist.
Gletscher, die einfach verschwinden
Catherine Larose erinnert sich an eine Expedition im Jahr 2023 zum Svalbard-Archipel. Drei Eiskerne, je 90 Meter tief, wollten sie bergen. Doch auf einmal kam statt Eis – Wasser. An einer Stelle, die Jahre zuvor noch komplett gefroren war. Der Klimawandel hat in der Arktis ein regelrechtes Zeitraffer-Tempo. Svalbard erwärmt sich viermal schneller als der globale Durchschnitt.
Und auch anderswo schrumpfen die Eismassen. Patrick Ginot erzählt von seinem Forschungsobjekt, dem Chacaltaya-Gletscher in Bolivien. Heute? Verschwunden. Der letzte Eisrest – in einer Flasche konserviert. Mehr blieb nicht übrig.
Die Rettung: ein Eis-Archiv in der Antarktis
Weil die Zeit drängt, wurde 2015 die Stiftung Ice Memory gegründet. Ihr Ziel: Eiskerne aus aller Welt sichern, bevor sie schmelzen – und in einer natürlichen Tiefkühltruhe einlagern: der Antarktis.
Aktuell lagern die Proben noch in einem Industriefrostlager bei Grenoble, zusammen mit tiefgefrorenem Gemüse. Aber das soll sich ändern. Ab Ende 2025 beginnt die Reise der „Erbe-Kerne“ nach Concordia – einer abgelegenen Forschungsstation auf dem eisigen Kontinent. Dort entsteht eine unterirdische Eishöhle bei konstanten minus 50 Grad. Der Plan: Ein riesiger Ballon wird vergraben, aufgeblasen, mit Schnee bedeckt – und dann wieder entleert. Übrig bleibt eine gewölbte Kammer, stabil und eiskalt.
Klingt nach einem James-Bond-Plot? Vielleicht. Aber der Ernst dahinter ist real.
Zwischen Wissenschaft und Weltpolitik
So ambitioniert das Projekt auch ist – die Forscher stoßen auf Hürden. Politische. Seit Donald Trumps Wiederwahl erschweren Angriffe auf die Wissenschaft die Logistik in der Antarktis. Ein nächtlicher Notfalltransport? Nur mit US-Hilfe möglich. Auch der Krieg in der Ukraine hat Auswirkungen: Kooperationen mit russischen Gletscherforschern mussten auf Eis gelegt werden.
„Und das ist bitter“, sagt Anne-Catherine Ohlmann, die Projektleiterin. „Denn sie waren gut – verdammt gut sogar.“ Der Verlust solcher Partnerschaften wiegt schwer. Zumal es nicht nur um Technik geht, sondern um jahrzehntelange Vertrauensverhältnisse.
Ein Aufruf an die Weltgemeinschaft
Deshalb soll das Eis-Erbe nicht im Besitz einzelner Staaten bleiben. Die Stiftung fordert eine internationale Verwaltung, getragen von der Gemeinschaft aller Nationen – ähnlich wie das Weltkulturerbe. „Wir stellen dieses Wissen zur Verfügung“, betont Ohlmann. „Aber es liegt an den Ländern, es zu schützen.“
Denn eines ist klar: Was einmal geschmolzen ist, lässt sich nicht zurückholen. Keine zweite Chance, kein Backup. „Wenn’s weg ist, ist’s weg“, bringt sie es auf den Punkt.
Und was bleibt?
Vielleicht ist dieser Eiskeller in der Antarktis mehr als nur ein Lager für gefrorenes Wasser. Vielleicht ist er ein Symbol – für unser Verhältnis zur Vergangenheit, zur Wissenschaft, zur Zukunft. Ein Ort, an dem wir nicht nur Daten aufbewahren, sondern auch Hoffnung. Hoffnung darauf, dass die Menschheit nicht nur zerstören, sondern auch bewahren kann.
Oder, um’s mal ganz direkt zu sagen: Wenn wir jetzt nicht handeln – wann dann?
Von Andreas M. Brucker
Quellen: franceinfo, Institut des Géosciences de l’Environnement (Grenoble), Fondation Ice Memory, CNRS
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