Am 22. August richtet sich der Blick der Weltgemeinschaft auf eine stille, oft übersehene Tragödie: die Gewalt gegen Menschen allein aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung. Der „Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer von Gewalthandlungen aufgrund der Religion oder der Weltanschauung“ wurde nicht eingeführt, um Schuld zuzuweisen, sondern um Erinnerung zu schaffen – und Verantwortung einzufordern. Denn auch im 21. Jahrhundert ist die Freiheit des Glaubens vielerorts weder selbstverständlich noch sicher.
Der politische Ursprung eines moralischen Imperativs
Die Entscheidung der Vereinten Nationen, diesen Tag ins Leben zu rufen, war eine Reaktion auf eine wachsende Zahl von Übergriffen, Massakern und systematischen Diskriminierungen religiöser Gruppen weltweit. Die Liste ist lang und erschreckend aktuell: Christen im Nahen Osten, Muslime in Süd- und Ostasien, Juden in Europa, Jesiden im Irak, Bahá’í im Iran, Atheisten in autoritären Regimen, Hindus und Sikhs in Konfliktzonen. Die Motivlage reicht von religiösem Fanatismus über politischen Extremismus bis hin zu ethnisch motivierter Intoleranz. Doch das Ergebnis bleibt stets dasselbe: Menschen werden entrechtet, verfolgt, vertrieben – oder ermordet.
Der 22. August ist kein Gedenktag wie viele andere. Er ist Ausdruck einer universellen Wahrheit: Der Schutz von religiöser und weltanschaulicher Freiheit ist nicht verhandelbar. Es handelt sich nicht um ein Privileg, sondern um ein Grundrecht – tief verwurzelt im internationalen Menschenrechtskanon. Wer dieses Recht verletzt, greift nicht nur Individuen, sondern die Fundamente freiheitlicher Gesellschaften an.
Die neue Dimension der alten Intoleranz
Religiöse Verfolgung ist kein Phänomen der Geschichte, sondern Gegenwart – und in vielerlei Hinsicht globalisiert. Was früher lokal blieb, verbreitet sich heute durch soziale Netzwerke und digitale Echokammern. Hasspredigten, Verschwörungstheorien, antireligiöse Polemik oder religiös aufgeladene Nationalismen werden in Sekunden weltweit geteilt. Kirchen, Moscheen, Tempel und Synagogen sind nicht nur Orte des Gebets, sondern immer häufiger auch Schauplätze der Gewalt.
Dabei trifft Intoleranz keineswegs nur klassische Minderheiten. Auch Mehrheiten können verfolgt werden – wenn ihre Positionen nicht ins ideologische Raster einer autoritären Führung passen. In säkularen Staaten werden religiöse Praktiken unterdrückt; in theokratischen Systemen wird Nichtglauben kriminalisiert. Verfolgung kennt keine einheitliche Form – sie reicht von subtilen Diskriminierungen im Alltag bis hin zu ethnischen Säuberungen.
Besonders gefährlich wird es, wenn religiöse Zugehörigkeit mit politischer Illoyalität gleichgesetzt wird. Wer glaubt, wird dann nicht nur als „anders“, sondern als „Feind“ markiert. Hier verwischt die Grenze zwischen Weltanschauung und politischem Misstrauen – mit fatalen Folgen.
Erinnern heißt handeln – auch institutionell
Gedenken darf sich nicht im symbolischen Akt erschöpfen. Der 22. August sollte Anlass sein für konkrete politische und gesellschaftliche Maßnahmen. Dazu gehören:
Rechtliche Sicherung: Staaten müssen Gesetze erlassen, die religiöse und weltanschauliche Minderheiten nicht nur formell schützen, sondern faktisch absichern – durch Gleichbehandlung, Schutz vor Hasskriminalität und das Verbot religiöser Diskriminierung im Bildungssystem, im Arbeitsrecht und im öffentlichen Raum.
Bildungspolitische Impulse: Schulen und Universitäten müssen interreligiöse und weltanschauliche Bildung stärker verankern – nicht als moralisches Ornament, sondern als zivilisatorischen Kernwert. Nur wer die Geschichte religiöser Verfolgung kennt, ist gegen ihre Wiederholung gewappnet.
Internationale Zusammenarbeit: Religionsfreiheit darf nicht der politischen Opportunität geopfert werden. Der Einsatz für verfolgte Gruppen – unabhängig von deren Glauben – muss Bestandteil internationaler Beziehungen und Außenpolitik sein. Menschenrechte sind universell oder gar nicht.
Zivilgesellschaftliches Engagement: Der Schutz religiöser Vielfalt beginnt in den Nachbarschaften – durch interreligiösen Dialog, durch Projekte gegen Vorurteile, durch klare Haltung in sozialen Medien und im Alltag. Eine liberale Gesellschaft muss Intoleranz nicht dulden, um tolerant zu sein.
Der Mensch als Maß
Am Ende steht nicht der Glaube im Mittelpunkt dieses Gedenktages – sondern der Mensch. Die Würde des Einzelnen, seine Überzeugung, seine spirituelle Identität, sein Zweifel oder seine Ablehnung eines Glaubenssystems: All das verdient Achtung. Gewalt dagegen ist nicht nur ein Verbrechen am Körper, sondern ein Angriff auf die Idee der Aufklärung, auf das Projekt der offenen Gesellschaft.
Der 22. August ruft in Erinnerung: Wer sich gegen Gewalt im Namen der Religion wendet, stellt sich nicht gegen Religion – sondern schützt die Freiheit zu glauben. Und die Freiheit, es nicht zu tun.
Autor: Andreas M. Brucker
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