Tag & Nacht




Es ist ein ungewöhnlicher Schritt, der weltweit für Aufsehen sorgt: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat angekündigt, am Donnerstag persönlich in Istanbul auf Wladimir Putin zu warten. Der Ort? Die Türkei – diplomatisch neutral, geostrategisch bedeutend. Die Botschaft? Klar und unmissverständlich: „Ich hoffe, dass die Russen diesmal keine Ausreden suchen.“

Mit dieser öffentlichen Herausforderung reagiert Selenskyj auf Putins jüngsten Vorschlag, am 15. Mai Friedensgespräche aufzunehmen – angeblich ohne Vorbedingungen. Doch Selenskyj stellt seinerseits eine Bedingung: eine vollständige Waffenruhe ab Montag. Sonst, so betonte er, seien Gespräche sinnlos. Denn wie soll man über Frieden reden, während Bomben fallen?


Ein diplomatisches Tauziehen in Echtzeit

Die Bühne ist bereitet – doch wird der Hauptakteur erscheinen? Der Kreml schweigt bislang über eine mögliche Teilnahme Putins. Währenddessen laufen die politischen Drähte auf Hochtouren. Denn auch auf internationaler Ebene überschlagen sich die Reaktionen. US-Präsident Donald Trump positionierte sich überraschend klar: Die Ukraine solle das Angebot Putins „sofort“ annehmen. Gleichzeitig zweifelte er selbst öffentlich an Putins Aufrichtigkeit – ein doppeltes Spiel, das Fragen aufwirft.

Europa hingegen versucht geschlossen aufzutreten. Bundeskanzler Friedrich Merz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Großbritanniens Premier Keir Starmer hatten in der vergangenen Woche in Kiew ein deutliches Signal gesendet. Ihre Forderung: eine bedingungslose Waffenruhe für 30 Tage. Bei Nichteinhaltung drohten sie mit Sanktionen und verstärkter militärischer Unterstützung. Ein deutliches Ultimatum – das nun auf dem Prüfstand steht.


Zwischen Hoffnung und Skepsis

Trotz diplomatischer Gesten zeigt Russland keinerlei Anzeichen von Zurückhaltung. In der Nacht zum Sonntag hagelte es erneut Drohnenangriffe auf ukrainische Städte – darunter Kiew, Mykolajiw und Schytomyr. Für viele Beobachter ist klar: Wer redet und gleichzeitig schießt, will keinen Frieden, sondern Zeit gewinnen. Ist Putins Gesprächsangebot also nur eine taktische Finte?

Die Lage erinnert an ein Pokerspiel, bei dem keiner so recht weiß, wer blufft. Doch die Einsätze sind hoch – es geht um Menschenleben, um die Zukunft einer Region, um die Glaubwürdigkeit internationaler Diplomatie.


Die Türkei als Vermittlerin – Hoffnung oder Illusion?

Recep Tayyip Erdoğan hat sich einmal mehr als Vermittler angeboten. Istanbul soll der Ort sein, an dem Historisches möglich wird. Bereits in der Vergangenheit hatte sich die Türkei bei Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau hervorgetan – allerdings ohne langfristigen Erfolg.

Die geografische Nähe zur Ukraine und Russland, gepaart mit einem ausgeprägten geopolitischen Eigeninteresse, macht die Türkei zu einem naheliegenden Gastgeber. Doch kann Erdoğan – dessen Beziehungen zu Putin als ambivalent gelten – wirklich Brücken bauen?


Was steht wirklich auf dem Spiel?

Ein direktes Treffen zwischen Selenskyj und Putin wäre ein Novum seit Kriegsbeginn – und ein riskanter Schritt für beide Seiten. Für Selenskyj bedeutet es ein politisches Wagnis. Er setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel, wenn Putin nicht erscheint oder das Gespräch ins Leere läuft. Für Putin wiederum ist die Aussicht, einem internationalen Friedensdruck nachzugeben, innenpolitisch heikel.

Und was denkt die internationale Gemeinschaft? Die einen hoffen auf einen Durchbruch – andere sprechen offen von einer „Verzögerungstaktik“, um dem Druck des Westens zu entkommen. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.


Ein Blick nach vorn – vorsichtig optimistisch?

Der kommende Donnerstag könnte ein Wendepunkt werden – oder ein weiteres Kapitel der Enttäuschung. Es wäre nicht das erste Mal, dass Hoffnung auf Frieden von der Realität zerschlagen wird. Aber was wäre die Alternative? Weiterkämpfen, bis keiner mehr zuhört?

Selenskyjs Botschaft an Putin ist ein öffentlicher Weckruf: „Es hat keinen Sinn, das Töten fortzusetzen.“ Eine einfache Wahrheit, in Zeiten des Krieges oft das Schwierigste, was man aussprechen kann.

Vielleicht – ganz vielleicht – ist das der erste Schritt aus der Sackgasse. Oder zumindest der Versuch, es zu wagen.

Andreas M. Brucker

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