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Israels Entscheidung, die teilweise Einfuhr privater Waren in den Gazastreifen zu genehmigen, markiert einen neuen taktischen Schritt in einem festgefahrenen Krieg – und eine Reaktion auf internationalen Druck angesichts wachsender Hungersnot und diplomatischer Isolierung.

Am Dienstag, dem 5. August, gab das israelische Verteidigungsministerium über die für die Koordination in den Palästinensischen Gebieten zuständige Behörde COGAT bekannt, dass ein „kontrollierter Mechanismus“ zur Einfuhr von Waren über den Privatsektor geschaffen wurde. Ziel sei es, „die Menge der Hilfe zu erhöhen und die Abhängigkeit von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen zu verringern“, wie es in der offiziellen Mitteilung heißt.

Politisches Kalkül und humanitäre Not

Diese Maßnahme kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem in Gaza eine sich rapide verschärfende Hungersnot droht. Laut Daten des Welternährungsprogramms (WFP) leben rund eine halbe Million Menschen in „katastrophalen“ Bedingungen (IPC-Stufe 5). Die israelische Armee hatte nach dem 7. Oktober 2023 den Gazastreifen nahezu vollständig abgeriegelt, was zu einer drastischen Reduktion des Warenflusses geführt hatte. Selbst UN-Hilfslieferungen, die über Grenzübergänge wie Rafah oder Kerem Shalom laufen sollten, wurden häufig verzögert oder gänzlich blockiert.

Die Öffnung für private Hilfskonvois stellt daher nicht nur einen Schritt zur Verbesserung der humanitären Lage dar, sondern auch eine politische Antwort auf internationale Kritik. Die USA, Ägypten, Katar und andere Staaten haben Israel in den vergangenen Wochen zunehmend unter Druck gesetzt, angesichts der humanitären Lage Zugeständnisse zu machen – auch, um neue Verhandlungsspielräume für einen Waffenstillstand zu eröffnen.

UN-Sicherheitsrat und die Geiselfrage

Parallel zur Ankündigung der Lockerung tagte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in einer Dringlichkeitssitzung zur Lage der israelischen Geiseln, die seit dem 7. Oktober 2023 vom Hamas-Flügel in Gaza festgehalten werden. Der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan forderte von der internationalen Gemeinschaft „maximalen Druck“ auf die Hamas, während zugleich Berichte zunehmen, dass viele der Geiseln unter prekären Bedingungen festgehalten werden – ohne Zugang zu medizinischer Versorgung oder unabhängigen Beobachtern wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).

Letzteres lehnt der Hamas-Ableger, die Qassam-Brigaden, bislang mit Verweis auf die fehlende Öffnung humanitärer Korridore ab. In einem Statement betonte die Gruppierung, die Geiseln erhielten dieselbe Verpflegung wie die übrige Bevölkerung – eine Aussage, die sich angesichts der bekannten Notlage kaum verifizieren lässt.

Netanyahu unter Druck: Strategiewechsel oder Machterhalt?

Die Entscheidung, private Lieferungen nach Gaza zuzulassen, fällt auch in eine Phase zunehmender innenpolitischer Turbulenzen für Premierminister Benjamin Netanyahu. Seit Wochen fordern Angehörige der Geiseln, Reservisten und Oppositionelle eine klar definierte Strategie für das weitere Vorgehen in Gaza. Netanyahus Ankündigung vom Montag, noch in dieser Woche „Instruktionen“ für die Fortsetzung des Krieges bekanntzugeben, wird in israelischen Medien als Versuch gewertet, die Kontrolle über die politische Agenda zu behalten.

Zugleich verstärkt sich der Eindruck, dass Israel auf eine neue Phase des Konflikts zusteuert: weg von großflächigen Offensiven hin zu punktuellen Operationen und einer stärkeren Einbindung internationaler Akteure in die Verwaltung des Gazastreifens – ein Modell, das bereits in verschiedenen Think-Tanks diskutiert wurde, etwa beim israelischen Institute for National Security Studies (INSS) oder der Brookings Institution.

Privatwirtschaft als Hilfsakteur: Chancen und Risiken

Die Öffnung für private Wareneinfuhren bedeutet außerdem, dass lokale Händler unter bestimmten Auflagen wieder Waren nach Gaza liefern dürfen – etwa über Kontrollpunkte wie Kerem Shalom. Unklar bleibt bislang, welche Produkte zugelassen werden, wie Preisaufschläge kontrolliert werden sollen und ob die Logistik im zerstörten Gazastreifen überhaupt funktioniert. Kritiker befürchten, dass der israelische Staat so die Verantwortung für das humanitäre Minimum an die Privatwirtschaft auslagert – ohne jedoch ausreichende Regulierung und Transparenz zu gewährleisten.

Gleichzeitig könnte die Maßnahme aber auch ein erster pragmatischer Schritt hin zu einer stabileren Versorgungslage sein. Denn während UN-Organisationen und NGOs zunehmend unter Finanzierungsdruck stehen und ihre Konvois immer wieder Ziel von Angriffen wurden, verfügen private Händler über bestehende Netzwerke und Anreize, um Waren schnell zu vertreiben – sofern ihnen dies logistisch möglich ist.

Ob Israels partielles Entgegenkommen lediglich taktischer Natur ist oder den Auftakt zu einer grundlegenderen Neuausrichtung der Gaza-Politik darstellt, bleibt abzuwarten. Die Rückkehr des Privatsektors als Versorgungskanal könnte kurzfristig zur Linderung der Not beitragen – doch ohne politische Lösung, ohne Waffenstillstand und ohne eine internationale Verwaltungsperspektive für Gaza dürfte sich die humanitäre Krise kaum dauerhaft kontrollieren lassen.

Von Andreas Brucker

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