Tag & Nacht


Man reibt sich die Augen, schaut noch einmal hin, liest langsamer – und versteht es trotzdem nicht. Das Schloss von Blois, königliche Residenz, steingewordene Chronik französischer Macht, Bühne der Renaissance, ist nicht mehr versicherbar. Zu wertvoll, zu riskant, zu kompliziert. Kurz gesagt: zu viel Geschichte für die Tabellenkalkulation.

Willkommen im Jahr 2025, in dem Versicherungen bereitwillig Influencer-Zähne, Lieferketten und Cyberrisiken absichern, aber beim kulturellen Gedächtnis der Nation höflich abwinken. Zu alt. Zu einzigartig. Zu wenig Excel.

Blois steht da wie seit Jahrhunderten, über der Loire, würdevoll, unbeeindruckt vom Zeitgeist – und nun nackt. Ohne Versicherungsschutz. Ein Schloss ohne Sicherheitsnetz, als hätte man beschlossen, den Louvre bei Sturm offen stehen zu lassen, mit einem handgeschriebenen Zettel: „Bitte nichts anzünden.“

Man stelle sich das Gespräch vor. Ein Versicherungsmathematiker, geschniegelt, mit PowerPoint-Folien bewaffnet. Gegenüber: der Geist von Franz I., die Hand lässig am Degen. „Tut mir leid“, sagt der Rechner, „Ihr Treppenhaus sprengt unsere Bewertungsmodelle.“ Der König nickt verständnislos. Geschichte verliert gegen Statistik.



Natürlich geht es ums Geld. Es geht immer ums Geld. Um Brandrisiken, Klimawandel, Erosion, Unwetter, Feuer – Notre-Dame schwebt wie ein Trauma über jedem Gespräch. Und ja, historische Gebäude sind verletzlich. Sie sind aus Holz, aus Stein, aus Jahrhunderten. Aber genau deshalb versichert man sie doch. Oder nicht?

Die neue Logik lautet offenbar: Was nicht berechenbar ist, existiert versicherungstechnisch nicht. Der Wert des François-I.-Treppenhauses? Unbezifferbar. Also null. Oder besser: zu hoch, um ihn überhaupt anzufassen. Das ist keine Vorsicht mehr, das ist kulturelle Kapitulation.

Die Stadt Blois zahlt nun selbst. Wenn es brennt, wenn gestohlen, wenn zerstört wird – dann geht die Rechnung an die Kommune. An die Steuerzahler. An jene, die ohnehin schon die Sanierung von Schulen, Kitas und Sporthallen stemmen. Ein zusätzlicher Feuerwehrmann wurde eingestellt. Man löscht jetzt präventiv mit Personal statt mit Versicherungsschutz. Improvisation als Staatskunst.

Das alles klingt ein bisschen nach Provinzposse, ist aber ein nationales Menetekel. Blois ist kein Einzelfall. Immer mehr historische Monumente – öffentlich wie privat – fallen aus dem Raster der Versicherer. Zu alt, zu fragil, zu komplex. Die Republik der Schlösser wird zur Republik der Selbstzahler.

Dabei reden wir hier nicht über dekorative Kulissen. Die Loire-Schlösser sind Identitätsanker. Sie erzählen von Macht und Intrigen, von Kunst und Gewalt, von Aufbruch und Untergang. Sie sind keine Freizeitparks, keine Fototapeten. Sie sind Gedächtnis. Und Gedächtnis ist unbequem. Es passt schlecht in Verträge mit Laufzeit vier Jahre.

Die Ironie ist bitter: Der Staat klassifiziert diese Bauten als schützenswertes Kulturerbe – aber überlässt ihren Schutz zunehmend dem Zufall. Oder dem guten Willen der Kommunen. Oder dem Wetter. Vielleicht hofft man ja, dass die Geschichte einfach stillhält. Dass die Balken nicht knacken, die Funken nicht springen, der Fluss nicht steigt.

Und die Versicherer? Sie verweisen nüchtern auf ihre Modelle. Risiken, sagen sie, müssten kalkulierbar sein. Man möchte ihnen entgegnen: Geschichte war nie kalkulierbar. Weder die Religionskriege noch die Revolution, weder die Monarchie noch ihr Sturz. Und trotzdem steht Blois noch.

Sarkastisch gedacht ließe sich die Lösung einfach halten. Wenn das Original zu teuer ist, ersetzt man es durch eine Replik. Beton statt Balken. Brandschutzklasse A. Eintritt frei, Geschichte als Hologramm. Versicherbar, garantiert. Der François-I.-Treppenaufgang als 3D-Druck – risikofrei und seelenlos.

Oder man geht einen Schritt weiter und versichert nur noch das, was sich schnell ersetzen lässt. Autos, Smartphones, Küchenmaschinen. Die großen Erzählungen hingegen? Unwirtschaftlich. Wer braucht schon Vergangenheit, wenn die Gegenwart schon so teuer ist.

Doch genau hier liegt der Denkfehler. Kulturerbe ist kein Luxus. Es ist Infrastruktur. Es stiftet Identität, zieht Besucher an, schafft Wert – auch ökonomisch. Die Loire-Schlösser sind keine romantische Spielerei, sie sind Teil der nationalen Bilanz. Nur tauchen sie dort offenbar nicht mehr auf.

Dass Versicherer Risiken scheuen, ist ihr Geschäft. Dass der Staat zusieht, wie zentrale Symbole der Geschichte unversichert bleiben, ist ein politisches Versagen. Wenn der Markt aussteigt, braucht es kollektive Lösungen. Staatliche Rückversicherungen. Nationale Fonds. Solidarische Modelle. Irgendetwas, das mehr ist als Achselzucken.

Stattdessen hört man Verständnis. Ja, schwierig. Ja, teuer. Ja, kompliziert. Geschichte als Problemfall. Man möchte rufen: Genau deshalb seid ihr doch da. Um das Schwierige abzusichern, nicht nur das Banale.

Vielleicht ist das der eigentliche Skandal. Nicht, dass ein Schloss brennen könnte. Sondern dass man sich daran gewöhnt, dass niemand mehr Verantwortung übernimmt. Dass selbst jahrhundertealte Mauern plötzlich als zu riskant gelten.

Blois steht noch. Unversichert, aber stolz. Wie ein alter Zeuge, den man nicht mehr einladen will, weil seine Geschichten zu lang, zu komplex, zu teuer geworden sind. Hoffen wir, dass er uns das nicht irgendwann übelnimmt – in Form von Rauch über der Loire.

Ein Kommentar von C. Hatty

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