Tag & Nacht


Es sind Bilder, die weh tun. Zeltplanen, notdürftig gespannt zwischen Bäumen, provisorische Feuerstellen, Kinder in Flipflops auf matschigem Boden. Das Leben in den illegalen Lagern entlang des französischen Ärmelkanals ist ein täglicher Kampf ums Überleben. Und jetzt – ein juristischer Paukenschlag.

Sechs Hilfsorganisationen haben am 18. November 2025 beim Verwaltungsgericht Lille eine sogenannte „Requête en référé liberté“ eingereicht: ein eiliger Rechtsbehelf, der dann zum Einsatz kommt, wenn Grundfreiheiten auf dem Spiel stehen. Ihr Vorwurf: Der französische Staat lasse Menschen in der Region Dunkerque systematisch unter menschenunwürdigen Bedingungen leben – ein klarer Verstoß gegen fundamentale Rechte.

Wer erhebt hier die Stimme?

Die Klägerinnen sind keine Unbekannten: Refugee Women’s Centre, Médecins du Monde, Utopia 56, Roots, Salam und Human Rights Observers – allesamt Akteure, die seit Jahren im Nordosten Frankreichs arbeiten, wo Migrantinnen und Migranten oft auf eine Weiterreise nach Großbritannien hoffen. Doch statt Hilfe oder Schutz finden viele dort nur Mangelverwaltung und Ignoranz.

Die Organisationen werfen dem Staat vor, seine rechtlichen Verpflichtungen mit Blick auf Unterbringung, Hygiene, medizinische Versorgung und Informationszugang schlicht zu ignorieren. Ihre Kernbotschaft: Menschenrechte sind kein Bonus – sie sind ein Fundament.

Was man vor Ort sehen kann, ist gravierend

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Über 2.000 geflüchtete Menschen leben derzeit in notdürftigen Lagern rund um Dunkerque – in Grande‑Synthe, Loon‑Plage oder Mardyck. Zum Vergleich: Noch vor wenigen Monaten lag die Zahl bei etwa 750. Die Situation eskaliert, sagen die Helfer.

Es fehlt an allem: an sauberem Wasser, an Toiletten, an Strom, an geschützten Schlafplätzen. Der Zugang zu ärztlicher Hilfe? Stark eingeschränkt. Nahrung? Nicht regelmäßig gesichert. Eine Dusche pro Tag? Laut Médecins du Monde können maximal 21 Frauen und Kinder täglich duschen. Alle anderen gehen leer aus – aus Platz- und Ressourcengründen.

Die Initiatoren der Klage sprechen von einer schweren und illegalen Verletzung der Grundfreiheiten. Und sie fordern: Sofortige Maßnahmen. Jetzt.

Was steht im Antrag?

In der juristischen Sprache klingt das nüchtern, aber es hat Gewicht: Der Staat soll zur Kenntnis nehmen, dass eine „gravierende Verletzung fundamentaler Rechte“ in den Lagern vorliegt. Und er soll verpflichtet werden, rasch zu handeln: durch konkrete Maßnahmen, um menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen.

Das Verfahren, das sogenannte référé liberté, ist in Frankreich ein besonders schnelles juristisches Mittel – gedacht für Situationen, in denen Eile geboten ist. Der Staat muss innerhalb kürzester Zeit reagieren. Tut er es nicht, kann das Gericht ihn verpflichten.

Warum jetzt?

Die Situation spitzt sich nicht nur zahlenmäßig zu, sondern auch politisch und gesellschaftlich. Die Helfer vor Ort schlagen seit Monaten Alarm: Die Zahl der Geflüchteten steigt, doch das staatliche Angebot bleibt auf dem Stand von gestern.

„Passivität“, nennen es die NGOs – und meinen damit eine Politik, die wegsieht, statt zu handeln. Sie fordern ein Umdenken: Der französische Staat habe nicht nur moralische, sondern auch verfassungsrechtliche und internationale Verpflichtungen. Und denen werde er im Dunkerquois derzeit nicht gerecht.

Was bedeutet das juristisch und gesellschaftlich?

Die Klage ist mehr als ein Hilferuf – sie ist ein Testfall.

Denn sie zwingt die Justiz dazu, eine Frage zu beantworten, die allzu oft umgangen wird: Dürfen Menschen auf französischem Boden – egal welcher Herkunft – so leben? Ohne Dach über dem Kopf, ohne Toilette, ohne Hoffnung?

Und was passiert, wenn das Gericht den Klägern Recht gibt? Dann könnte ein Präzedenzfall entstehen – auch für andere Regionen. Ein Signal an alle, die in Frankreich humanitäre Arbeit leisten. Und ein Druckmittel gegen eine Verwaltung, die sich zu oft hinter unklaren Zuständigkeiten versteckt.

Was passiert als Nächstes?

Das Gericht in Lille muss nun prüfen: Liegt tatsächlich eine „offensichtliche, rechtswidrige Unterlassung“ durch den Staat vor? Und falls ja: Welche Maßnahmen müssen getroffen werden – und in welchem Zeitrahmen?

Es geht nicht um Schuldzuweisungen. Sondern um Handlungspflichten.

Dabei steht viel auf dem Spiel: für die Menschen in den Lagern, für die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats – und für das Bild, das Frankreich von sich selbst hat.

Ein Wendepunkt? Möglich.

Die Klage im Dunkerquois zeigt, dass humanitäres Engagement und juristischer Druck kein Widerspruch sind – sondern sich ergänzen. Helfer, die sonst nur Pflaster kleben und Nahrung verteilen, reichen nun Akten ein. Und zwingen damit einen Staat zur Bewegung.

Was daraus wird? Das hängt auch davon ab, wie intensiv wir alle hinschauen.

Autor: Andreas M. Brucker

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