Frankreich erlebt ein Déjà-vu. Kaum tritt ein neuer Premierminister sein Amt an, wird von „Dialog“ und „Zuhören“ gesprochen. Sébastien Lecornu, gerade erst ins Amt gehievt, wird nun von Gewerkschaftsvertretern wie Cyril Chabanier (CFTC) gelobt: ein Premier, der „bereit sei, die Linien zu verschieben“. Ein Hoffnungsschimmer in einem Land, das seit Jahren an politischer Arroganz und sozialer Kälte leidet.
Doch man muss fragen: Handelt es sich wirklich um einen Kurswechsel – oder ist Lecornu nur der nächste Funktionär im Dienste Emmanuel Macrons, der mit freundlichen Gesten den Zorn der Straße besänftigen soll, um am Ende doch die alte neoliberale Agenda durchzudrücken?
Macrons Problem: Herrschen ohne Vertrauen
Seit 2017 regiert Macron mit der Aura des „modernisierenden“ Technokraten, der Frankreich auf europäische Linie bringen will. Doch das Land ist sozial zerrissen, das Vertrauen in die Politik am Boden. Rentenreform, Steuerungerechtigkeit, die Explosion der Lebenshaltungskosten: all das hat die Kluft zwischen Paris und der Provinz, zwischen Eliten und Volk vergrößert.
Macron hat seine Premierminister verschlissen – Édouard Philippe, Jean Castex, Élisabeth Borne, Michel Barnier, François Bayrou. Jeder und jede von ihnen sollte vermitteln, befrieden, das „soziale Band“ wiederherstellen. Keiner hat es geschafft. Warum? Weil Macron letztlich keinen Spielraum lässt. Er entscheidet, sie exekutieren.
Lecornu – der „Zuhörer“ als Tarnkappe?
Nun also Lecornu, der 38-Jährige mit der Reputation eines pragmatischen Verhandlers. Er hört zu, sagt der Gewerkschaftler Chabanier. Er verzichtet auf Privilegien für Ex-Minister. Er signalisiert Bescheidenheit. All das klingt sympathisch, ja fast revolutionär in einer politischen Klasse, die sich seit Jahrzehnten selbst bedient.
Aber: Wird er mehr sein als eine Tarnkappe, hinter der Macron seine Politik weitertreibt? Was nützt Zuhören, wenn die Entscheidungen längst feststehen? Was nützt Dialog, wenn die Budgetvorgaben aus Brüssel eiserne Grenzen ziehen? Ein Premierminister kann lächeln, Hände schütteln, Gewerkschaften empfangen – entscheidend ist, ob er wirklich bereit ist, gegen Macron und seine Finanzorthodoxie anzutreten.
Frankreichs Gesellschaft brodelt
Die Wahrheit ist: Das Land steht am Rand einer sozialen Explosion. Der Aufruf der Gewerkschaften für den 18. September ist kein Routineprotest. Es ist ein Fanal. Von der CGT bis zur CFTC ziehen sie an einem Strang – eine seltene Allianz, die das ganze Spektrum von radikal bis moderat umfasst. Sie alle wissen: Die Menschen sind erschöpft, wütend, enttäuscht.
Wenn Lecornu hier scheitert, wird er nicht nur Macron schaden, sondern das letzte Vertrauen in die Fähigkeit der französischen Institutionen, gesellschaftliche Spannungen zu lösen, zerstören.
Frankreich braucht keinen weiteren Platzhalter, keinen „Verwalter“ im Schatten des Präsidenten. Es braucht einen Premierminister, der wirklich zuhört, der wirklich versteht – und der im Zweifel bereit ist, sich mit dem Elysée anzulegen. Wird Lecornu dieser Premierminister sein? Oder wird er, wie so viele vor ihm, als Marionette Macrons in die Geschichte eingehen? Die Antwort beginnt am 18. September, auf der Straße.
Ein Kommentar von Daniel Ivers
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