Die Literaturwelt verneigt sich: Der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai ist mit dem Literaturnobelpreis 2025 ausgezeichnet worden.
Der 71-jährige Autor wird für ein Werk geehrt, das der Nobelpreisjury zufolge „faszinierend und visionär“ ist, eines, das „mitten in apokalyptischem Schrecken die Kraft der Kunst bekräftigt“. Eine Formulierung, die bereits andeutet, was Leserinnen und Leser in Krasznahorkais Büchern erwartet: eine intensive Auseinandersetzung mit Existenz, Zeit, Untergang – und dem unbedingten Überleben der Sprache.
Die Rückkehr eines Großen: 23 Jahre nach Imre Kertész
Es ist ein Déjà-vu für Ungarn: Fast ein Vierteljahrhundert nach der Auszeichnung von Imre Kertész erhält wieder ein Autor aus dem Land der Donau diese höchste literarische Ehre. Doch wo Kertész über den Holocaust schrieb, blickt Krasznahorkai in eine andere Dunkelheit – eine, die sich aus Geschichte, Mythos und einem tiefen Gefühl des Verlorenseins speist.
Geboren 1954 in der Kleinstadt Gyula im Südosten Ungarns, hat László Krasznahorkai eine literarische Karriere hingelegt, die nicht nach gängigen Maßstäben zu fassen ist. Wer seine Romane liest, begegnet nicht bloß Geschichten, sondern einem Kosmos. Einem manchmal abgründigen, aber nie lieblosen.
Kino der Sprache – und der Stille
Bekannt wurde Krasznahorkai unter anderem durch seine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Béla Tarr. Gemeinsam schufen sie filmische Meilensteine wie Damnation oder Sátántangó – letzteres basierend auf Krasznahorkais gleichnamigem Romandebüt von 1985, das in Deutschland unter dem Titel Satanstango erschien.
Die Verbindung von Wort und Bild war dabei nie einfach Bebilderung. Es ging um etwas Tieferes: ein ästhetisches Echo zwischen literarischer und filmischer Erzählung, getragen von Langsamkeit, Monotonie, Melancholie. Krasznahorkais Sätze sind lang, verschachtelt, kaum durch Absätze unterbrochen – seine Literatur liest sich wie ein einziger, fiebriger Atemzug.
Und es sind gerade diese stilistischen Eigenheiten, die seine Prosa so einzigartig machen. Der Autor selbst sprach einmal von einer „bis zum Wahnsinn getriebenen Realität“. Wer das liest, weiß: Hier geht es nicht um Unterhaltung, sondern um Erkenntnis.
Zwischen Kafka und Zen – ein Schriftsteller ohne Kompass
Die Schublade „osteuropäischer Literat“ ist Krasznahorkai längst zu eng. Auch wenn die Jury des Nobelpreises ihn als „großen epischen Schriftsteller in der mitteleuropäischen Tradition“ würdigt – mit Anklängen an Kafka und Thomas Bernhard –, so ist sein Werk zugleich von einer offenen Weltgewandtheit durchzogen.
Ab den 1990er-Jahren lebte er längere Zeit in Deutschland, reiste aber auch intensiv durch Asien, vor allem Japan und China. Diese Erfahrungen färbten auf seine Texte ab. Plötzlich tritt neben die groteske Verzweiflung auch ein meditativer Ton, ein fast zen-buddhistischer Blick auf die Vergänglichkeit. In Seiobo ist herabgestiegen zur Erde, einem seiner bekanntesten Romane, begegnet man einer literarischen Ikone des Ostens – ruhig, durchdacht, ästhetisch.
Eine Kombination, die ihn auch zum Träger des Man Booker International Prize 2015 machte – lange bevor er nun mit dem Nobelpreis gekrönt wurde.
Der Schatz in der Übersetzung
Viele seiner Werke sind seit den späten 1990er-Jahren auch auf Deutsch erhältlich. Der Pariser Verlag Gallimard und in Deutschland unter anderem Matthes & Seitz sowie der Verlag Cambourakis veröffentlichten Übersetzungen zentraler Werke wie Die Melancholie des Widerstands, Guerre & Guerre oder Der letzte Wolf. Jedes davon ein literarisches Ungetüm, ein intellektuelles Abenteuer.
Wem diese Bücher zu sperrig erscheinen – nun, vielleicht müssen sie es sein. In einer Zeit, in der Literatur oft gefällig, kurzatmig und marktkonform daherkommt, ist Krasznahorkai ein Gegenentwurf. Ein Aufschrei. Ein Schweigen zugleich.
Warum gerade jetzt?
Die Entscheidung der Schwedischen Akademie ist nicht bloß eine literarische Würdigung – sie ist ein Statement. Gegen das Vergessen. Gegen die Vereinfachung. Für Komplexität, für Sprache als Kunstform, für Literatur als Überlebensstrategie in einer von Krisen geschüttelten Welt.
Und: Sie rückt wieder einmal Mittel- und Osteuropa ins Zentrum der Weltliteratur. Ein Raum, der lange Zeit durch politische Konflikte und kulturelle Unsichtbarkeit an den Rand gedrängt war – und nun durch die Stimme eines Einzelnen leuchtet.
Ein Preis, ein Zeichen, ein Vermächtnis
Der Literaturnobelpreis bringt Krasznahorkai nicht nur weltweite Aufmerksamkeit, sondern auch ein Preisgeld von rund einer Million Euro. Doch der eigentliche Lohn ist nicht materieller Natur. Es ist das kollektive Nicken einer literarischen Öffentlichkeit, das sagt: Ja, diese Stimme zählt.
Und was für eine Stimme das ist.
Krasznahorkais Texte sind kein Spaziergang. Aber wer sich einlässt, wird belohnt – mit einem Blick in den Abgrund, und manchmal mit einem Lichtfunken am Rand des Sichtbaren.
Denn vielleicht ist das die größte Kunst: im Chaos noch einen Satz zu finden, der alles trägt.
Autor: Andreas M. Brucker
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