Am Dienstag, dem 27. August, erlebte Marseille ein bedeutendes Jubiläum: 80 Jahre sind vergangen, seit die Stadt sich 1944 von der Besatzung durch die Deutschen befreite. Für viele Bewohner der Stadt war dies ein unvergesslicher Moment, der bis heute in ihren Erinnerungen lebendig bleibt. Besonders eindrucksvoll sind die Schilderungen von Zeitzeugen wie Jeannette Laggiard, die damals gerade einmal neun Jahre alt war. Ihre Erinnerungen spiegeln nicht nur die Freude über die Befreiung wider, sondern auch die düsteren Jahre, die dieser lang ersehnte Tag beendete.
Eine Stadt in Aufruhr
Die Befreiung Marseilles war kein leichtes Unterfangen. Am 27. August 1944, nach einer Woche intensiver Kämpfe, war die Stadt gezeichnet von Zerstörung und Schmerz. Doch trotz der sichtbaren Narben an Gebäuden und Straßen war die Freude der Menschen überwältigend. Am 29. August, nur zwei Tage nach der offiziellen Befreiung, marschierten die Soldaten durch den Vieux-Port, das Herzstück der Stadt. Die Bevölkerung strömte auf die Straßen, um sie zu feiern.
Unter ihnen befand sich auch Jeannette Laggiard, die heute auf 89 Lebensjahre zurückblickt. Sie erzählt, wie sie sich unter die Menschenmenge auf der Canebière mischte, einer der berühmtesten Straßen Marseilles. „Die Bars und Brasserien waren voll, und überall sah man Nordafrikaner und Menschen aus den Kolonien“, erinnert sie sich. Diese Vielfalt zeigte deutlich, wie sehr die Stadt mit der Welt verbunden war – selbst in Zeiten des Krieges.
Freude und Trauma liegen nah beieinander
Jeannette beschreibt die Atmosphäre als elektrisierend. „Die Menschen waren begeistert, sie klatschten, schrien vor Freude. Die ganze Stadt war wie neu geboren – Marseille hatte seine Lebensfreude wiedergefunden“, erzählt sie mit einem Lächeln. Doch so groß die Freude auch war, die Schrecken der Besatzung hatten Spuren hinterlassen. Besonders das Geräusch der schweren Stiefel deutscher Soldaten hat sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. „Ich trage bis heute keine Stiefel, nicht einmal im Winter. Ich kann dieses Geräusch einfach nicht ertragen“, gesteht sie mit einem Lachen, das zeigt, wie sehr diese Erlebnisse noch immer in ihr nachklingen.
Für viele Marseillais markierte die Befreiung das Ende einer Zeit des Versteckens und der Angst. Die Jahre der Unterdrückung durch die deutschen Besatzer und ihre französischen Kollaborateure hatten die Bevölkerung zermürbt. Nun konnten sie endlich wieder offen auf den Straßen feiern, ohne Furcht vor Repressalien.
Marseille – eine Stadt im Wandel
Marseille war in diesen Jahren mehr als nur eine Stadt am Mittelmeer. Es war ein Schmelztiegel der Kulturen, geprägt von den unterschiedlichsten Einflüssen. Die Befreiung war nicht nur ein militärischer Sieg, sondern auch ein emotionales und kulturelles Erwachen. Die Menschen kamen zusammen, um zu feiern und sich gegenseitig Mut zuzusprechen – eine kollektive Katharsis, die die Stadt bis heute prägt.
Die Geschichte von Jeannette und anderen Zeitzeugen ist ein kostbares Erbe, das die Bedeutung dieses Tages im kollektiven Gedächtnis Marseilles festhält. Die Erinnerung an die Befreiung lebt weiter, nicht nur in offiziellen Zeremonien, sondern auch in den persönlichen Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Was bedeutet dieser Tag heute, 80 Jahre später? Die Antwort findet sich vielleicht nicht in den Geschichtsbüchern, sondern in den Herzen der Menschen, die damals dabei waren – und in denen, die diese Erinnerungen bewahren.
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!