Es war, als hätte jemand den Himmel aufgerissen. Innerhalb weniger Minuten stand das Wasser in den Straßen Marseilles kniehoch, Autos trieben wie Spielzeuge durch die Viertel, besonders betroffen: das Quartier de l’Estaque. Was hier am 21. September 2025 passierte, war kein gewöhnliches Unwetter. Es war ein meteorologischer Ausnahmezustand.
Denn was da vom Himmel prasselte, entsprach dem, was sonst in einem Monat fällt – in manchen Gebieten sogar eineinhalb Monate, in nur einer einzigen Stunde.
80 Liter in einer Stunde
Normalerweise fällt in Marseille im gesamten Monat September zwischen 35 und 45 Liter Regen auf einen m2. In Sanary-sur-Mer, an der Küste des Départements Var, liegt der Monatsdurchschnitt bei rund 42 Litern.
Doch an diesem Sonntag ergossen sich 80 bis 90 Liter/m2 binnen 60 Minuten über die Region. Das bedeutet: Fast zwei volle Monatsrationen – eine Menge, die selbst für Mittelmeerregionen, die regelmäßig von Starkregen betroffen sind, völlig aus dem Rahmen fällt.
Aber: Nicht der Regen allein war das Problem – sondern die Wucht, mit der er kam.
Schlamm, Stromausfälle und Chaos
Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Straßen verwandelten sich in reißende Bäche, Unterführungen wurden zu Fallen, der Strom fiel aus, der Nahverkehr kam zum Erliegen. In Estaque spülte das Wasser Fahrzeuge weg, drang in Wohnungen ein, verwüstete Geschäfte.
Mancherorts rutschte der aufgeweichte Boden ab. Denn diese Gegend wurde schon im Sommer durch Buschbrände geschwächt – das Feuer hatte die Vegetation zerstört, die Erde hatte keinen Halt mehr. Es war ein Lehrstück in Sachen Hydrologie: Ohne Pflanzen kein Halt, kein Puffer, kein natürlicher Schutz.
Das Wettergeschehen lässt sich erklären – zumindest meteorologisch. Der späte Sommer bis frühe Herbst ist die klassische Zeit für solche Ereignisse: Die Mittelmeeroberfläche ist noch warm, die Luft kann viel Feuchtigkeit aufnehmen. Trifft dann ein südöstlicher Luftstrom auf diese aufgeladene Atmosphäre, kann sich ein stationäres Gewittersystem bilden, das seine Feuchtigkeit binnen Minuten entlädt.
Doch da steckt noch mehr dahinter.
Der Boden – ausgetrocknet und geschwächt – nimmt das Wasser nicht mehr auf. Statt zu versickern, fließt es oberflächlich ab, reißt Erde, Müll, ja ganze Autos mit sich. Noch dazu ist Marseille stark verbaut, versiegelt durch Straßen und Beton – das Wasser findet keinen natürlichen Weg mehr.
Klimakrise oder mediterranes Wetter?
Natürlich gab es in Marseille schon früher starke Regenfälle. Historisch belegt ist ein Extremereignis mit über 200 Litern/m2 an einem einzigen Tag – im Jahr 1892. Auch in jüngerer Zeit wurden vereinzelt über 150 Liter in 24 Stunden gemessen.
Doch was dieses Ereignis so besonders macht, ist die Verdichtung: 80 bis 90 Millimeter in nur einer Stunde – das gab es so kaum je zuvor, zumindest nicht in solch dicht besiedelten Gegenden. Offizielle Stundenrekorde lagen meist weit darunter, besonders in den letzten Jahrzehnten.
Ein einzelner Starkregen macht noch keinen Klimawandel – aber die Häufung, Intensivierung und geografische Ausweitung solcher Ereignisse sind klare Warnsignale.
Warnung oder Weckruf?
Was bleibt nach diesem Regen? Schlamm, Schäden, Scherben – aber auch Erkenntnisse.
Diese Katastrophe zeigt nicht nur, wie verletzlich gerade große Städte wie Marseille sind. Sie legt auch offen, wo die Schwachstellen liegen: veraltete Entwässerungssysteme, unzureichende Vorsorge, fehlender Raum für Wasser, kaum angepasste Bauvorgaben in Risikozonen.
Es braucht neue Standards, neue Schutzkonzepte – und ein grundsätzliches Umdenken im Umgang mit Wasser: nicht nur als Ressource, sondern auch als Gefahr.
Denn wer einmal erlebt hat, wie aus einem Spätsommerregen binnen Minuten eine lebensbedrohliche Flut wird, weiß: Die Natur verzeiht keine Nachlässigkeit.
Und wenn das, was einst als Jahrhundertregen galt, plötzlich alle paar Jahre auftritt – dann ist das keine Ausnahme mehr.
Dann ist das der Anfang.
Von C. Hatty
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