Tag & Nacht




Es war ein sonniger Julitag im Jahr 2014, als sich der Himmel über der Ostukraine in ein Trümmerfeld verwandelte. Flug MH17, auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur, wurde von einer Rakete getroffen – und 298 Menschen starben. Darunter Familien, Kinder, Geschäftsreisende. Ein Jahrzehnt später bleibt nicht nur die Trauer – sondern auch der Ruf nach Gerechtigkeit.

Was ist ein Menschenleben wert?

Diese Frage schwebt bis heute über dem Wrack, das sich in die Felder der Ukraine gebohrt hat. Die internationale Gemeinschaft hat lange gerungen – mit Fakten, mit politischen Interessen, mit Blockaden. Nun hat der UN-Luftfahrtsrat (ICAO) Russland offiziell für den Abschuss verantwortlich erklärt. Ein Meilenstein, sagen die einen. Symbolpolitik, kritisieren die anderen.

Doch was steckt dahinter?

Die technischen Ermittlungen waren akribisch: Der Abschuss erfolgte mit einer Buk-Rakete, abgefeuert aus einem Gebiet, das zu jener Zeit von pro-russischen Separatisten kontrolliert wurde. Die Rakete stammte aus Russland, genauer gesagt von der 53. Luftabwehrbrigade in Kursk. Daran lässt sich heute kaum noch zweifeln.

Aber Russland bestreitet alles.

Moskau sieht sich als Sündenbock, spricht von politischer Inszenierung. Die drei Männer, die 2022 in den Niederlanden verurteilt wurden – zwei Russen, ein Ukrainer – wurden in Abwesenheit verurteilt. Russland lieferte sie nicht aus, ignorierte die Urteile. Auch jetzt, nach der ICAO-Entscheidung, bleibt der Ton kühl, abweisend, trotzig.

Dabei hat die Entscheidung durchaus Gewicht – wenn auch rein moralisch. Die ICAO besitzt keine rechtliche Durchsetzungskraft, kann keine Sanktionen verhängen, niemanden zwingen. Aber sie kann benennen. Und das hat sie nun getan. Das ist mehr als Symbolik. Es ist ein diplomatischer Pranger.

Australien und die Niederlande begrüßten das Urteil. Für sie ist es ein Akt der Gerechtigkeit – zumindest ein Schritt in diese Richtung. Die Angehörigen der Opfer, viele von ihnen aktiv in Opferinitiativen, sehen darin ein Zeichen, dass ihre Stimmen gehört werden.

Doch der Weg zur Gerechtigkeit bleibt steinig.

Denn was fehlt, ist echte Verantwortung. Kein Schuldeingeständnis aus Moskau. Kein Schadensersatz. Keine diplomatische Annäherung. Stattdessen weiter eisige Fronten. Der Krieg in der Ukraine – entfacht 2014, eskaliert 2022 – hat den Spielraum für Verständigung weiter verengt.

Gleichzeitig ist MH17 mehr als nur ein Einzelfall. Der Abschuss hat gezeigt, wie verwundbar zivile Luftfahrt im Kriegsgeschehen ist. Wie sehr politische Interessen Ermittlungen behindern können. Und wie schwer es ist, Täter zu bestrafen, wenn sie in mächtigen Staaten geschützt werden.

Ist das also alles, was bleibt?

Nein. Denn mit jeder Anerkennung, mit jeder offiziellen Bestätigung wächst der Druck. Auch wenn Russland blockiert – die Welt schaut hin. Die ICAO-Entscheidung hat Signalwirkung. Nicht nur für Russland, sondern für alle Staaten, die glauben, sich über das internationale Recht hinwegsetzen zu können.

MH17 steht heute symbolisch für die Notwendigkeit einer globalen Rechtsordnung. Für Transparenz, für Ermittlungen ohne politische Einflussnahme – und für eine internationale Gemeinschaft, die sich nicht wegduckt.

Die Angehörigen der Opfer – sie sind nicht verstummt. Im Gegenteil. Ihr Einsatz, ihre Beharrlichkeit haben dieses Urteil möglich gemacht. Ihr Leid wurde nicht vergessen – es wurde politisch hörbar gemacht.

Vielleicht ist das der wahre Fortschritt in dieser tragischen Geschichte: Dass Schmerz zu politischem Handeln führt. Dass die Stimmen der Opfer nicht unterdrückt, sondern angehört werden. Auch wenn das Ende der Gerechtigkeit noch fern scheint.

Von Andreas M. Brucker

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