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Ein Urteil aus Amsterdam sorgt für Aufsehen: Der US-Konzern Meta, Betreiber von Facebook und Instagram, muss niederländischen Nutzerinnen und Nutzern künftig die Möglichkeit geben, ihren Nachrichtenfeed chronologisch anzuzeigen – ohne algorithmische Vorauswahl. Und noch wichtiger: Diese Einstellung soll bestehen bleiben, auch wenn man die App schließt.

Das klingt nach einer kleinen Funktionseinstellung, ist aber in Wahrheit ein Paukenschlag. Denn es geht um weit mehr als die Reihenfolge von Posts. Es geht um die Frage, wer im digitalen Raum den Ton angibt: die Algorithmen der Konzerne oder die Entscheidungshoheit der Bürgerinnen und Bürger.


Gericht gegen „Dark Patterns“

Die Richter in Amsterdam kamen zu einem klaren Schluss: Meta drängt Nutzerinnen und Nutzer über versteckte Voreinstellungen („Dark Patterns“) dazu, beim personalisierten Feed zu bleiben. Dieser sei nicht neutral, sondern diene vor allem den wirtschaftlichen Interessen des Konzerns.

Die Konsequenz: Ein Bußgeld von 100.000 Euro pro Tag, falls Meta das Urteil innerhalb von zwei Wochen nicht umsetzt. Maximal fünf Millionen Euro können so zusammenkommen.

Meta reagierte empört und kündigte Berufung an. Aus Sicht des Unternehmens gehören solche Fragen in die Hand europäischer Regulierungsbehörden, nicht in die einzelner Nationalgerichte. Ein Argument, das wohl noch mehrfach in einem europäischen Gerichtssaal verhandelt werden dürfte.


Algorithmen entmachtet? Ganz so einfach ist es nicht

Auf den ersten Blick wirkt das Urteil wie eine Befreiung von der „Algorithmus-Diktatur“. Endlich wieder das echte, unverfälschte Netz! Doch die Sache ist komplexer.

Zum einen gilt die Entscheidung nur in den Niederlanden. Nichts verpflichtet Meta, diese Funktion sofort in anderen EU-Staaten freizuschalten. Das Verfahren könnte aber als Blaupause dienen. Je nachdem, ob Meta den Widerstand durchhält oder ob andere Gerichte nachziehen, könnte daraus eine europäische Dynamik entstehen.

Zum anderen bedeutet ein chronologischer Feed nicht automatisch eine bessere Informationsqualität. Er verhindert zwar, dass Algorithmen bestimmte Inhalte hochpushen – doch Filterblasen, Desinformation oder schlicht Überflutung mit irrelevanten Posts bleiben ein Problem.

Die Schlagzeile „Algorithmen haben verloren“ ist also eher ein Signal, kein Endpunkt.


Wenn das Geschäftsmodell wackelt

Die technischen Anforderungen für Meta sind überschaubar. Viel problematischer ist der Eingriff ins Geschäftsmodell.

Personalisierte Feeds sind Goldgruben: Sie steigern die Verweildauer, sie treiben die Klicks, und sie liefern präzise Daten für personalisierte Werbung. Ein chronologischer Feed, der ohne algorithmisches Ranking auskommt, könnte den Werbewert deutlich senken.

Meta selbst warnt deshalb: Nationale Alleingänge wie in Amsterdam gefährden den „digitalen Binnenmarkt“ und unterlaufen die geplante EU-weite Umsetzung des Digital Services Act (DSA). Hinter dieser Verteidigung steckt aber nicht nur juristische Logik – sondern handfester wirtschaftlicher Selbsterhalt.


Ein Etappensieg für digitale Bürgerrechte

Die NGO Bits of Freedom, die das Verfahren angestoßen hatte, feiert das Urteil als Triumph. „Es ist inakzeptabel, dass ein paar amerikanische Milliardäre entscheiden, wie wir die Welt sehen“, sagte ein Sprecher.

Und ja: Das Urteil markiert einen symbolischen Schritt hin zu mehr Selbstbestimmung im Netz. Aber die Wirklichkeit ist weniger spektakulär. Die Umsetzung hängt an der praktischen Kontrolle der Aufsichtsbehörden – und Meta hat bereits signalisiert, dass man auf Zeit spielen will.

Die Chronologie-Option allein beseitigt weder Echokammern noch den Einfluss manipulativer Inhalte. Sie ist ein Korrektiv, kein Allheilmittel.


Der europäische Kontext: DSA als Hebel

Der Fall fügt sich nahtlos in die größere europäische Agenda ein. Der Digital Services Act verpflichtet Plattformen, transparenter zu agieren und Nutzerinnen mehr Kontrolle über Empfehlungsalgorithmen einzuräumen.

Doch die Gesetze lassen Interpretationsspielräume. Genau deshalb sind nationale Urteile wie in Amsterdam so entscheidend: Sie schaffen Präzedenzfälle, sie zwingen Konzerne zur Bewegung – und sie zeigen, dass digitale Rechte einklagbar sind.

Man könnte sagen: Die Niederlande spielen hier das Versuchslabor für Europa.


Warum es uns alle betrifft

Warum sollten Bürgerinnen, Medien und Politik über einen Feed-Streit in den Niederlanden reden? Drei Gründe:

  1. Autonomie im Informationszeitalter
    Gerade vor Wahlen ist entscheidend, wie Informationen fließen. Der niederländische Gerichtshof verwies explizit auf den anstehenden Urnengang als Grund für die Eilbedürftigkeit.
  2. Macht der Plattformen
    Facebook, Instagram & Co. sind längst mehr als Unternehmen – sie prägen die öffentliche Debatte wie ein unsichtbarer Staat im Staat. Das Urteil macht deutlich: Auch sie unterliegen Regeln.
  3. Alternativen denkbar
    Sollte der chronologische Feed Zuspruch finden, könnte er den Wettbewerb im Social-Media-Markt neu beleben. Vielleicht entstehen neue Plattformen, die den Nutzerwillen ins Zentrum stellen, statt allein die Klickzahlen.

Kein Nullpunkt der Algorithmen

Bleibt die Frage: Leben wir bald in einer algorithmusfreien Zone? Natürlich nicht. Algorithmen sind nicht per se böse. Sie strukturieren Daten, filtern Informationen, erleichtern Orientierung.

Aber sie dürfen nicht unkontrolliert darüber entscheiden, wie unsere digitale Öffentlichkeit aussieht. Das Urteil aus Amsterdam ist weniger ein Ende als ein Komma – ein Einspruch gegen die totale Macht der Plattformen, ein kleiner, aber deutlicher Schritt in Richtung Balance.

Die eigentliche Debatte fängt gerade erst an: Wie lassen sich Geschäftsmodelle, demokratische Kontrolle und Nutzerrechte so austarieren, dass das Netz wieder ein öffentlicher Raum bleibt – und nicht nur ein gewinnoptimiertes Schaufenster?

Autor: C.H.

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