Tag & Nacht




10 Tage, fast 1.500 Klammern im Vertragstext – und kein einziger gemeinsamer Beschluss. Die Verhandlungen über das erste weltweite Abkommen gegen Plastikverschmutzung drohen zu scheitern. Warum? Eine Analyse zwischen Hoffnung, Blockade und der Frage: Wie viel Einfluss haben Öl-, Gas- und Chemiekonzerne auf die Weltpolitik?

Das große Versprechen – und sein Zusammenbruch

Als die UN 2022 den Startschuss für ein globales Plastikabkommen gaben, war die Aufbruchsstimmung spürbar: Endlich ein multilateraler Vertrag gegen die Plastikflut, die Strände, Meere, Flüsse und zunehmend auch unsere Körper überschwemmt. Endlich ein verbindliches Regelwerk, das das Problem an der Wurzel packt – bei der Produktion.

Doch jetzt, drei Jahre später, droht dieser historische Moment zu verpuffen. Nach der vermeintlich letzten Verhandlungsrunde in Nairobi steht fest: Es gibt keine einzige Einigung im Vertragstext. Kein Artikel ist konsensfähig. Keine Regel zur Begrenzung der Plastikproduktion. Keine Vorgaben zu giftigen Zusatzstoffen. Kein Finanzierungsmechanismus für den globalen Süden.

Statt Fortschritt: Frust.

Plastikpakt ohne Biss – Genfer Verhandlungen scheitern an alten Fronten

Am 15. August 2025 endete die letzte offizielle Verhandlungsrunde in Genf – ohne Ergebnis. Kein globales Plastikabkommen, keine Einigung, keine verbindlichen Regeln.

Stattdessen: verhärtete Fronten.

Auf der einen Seite eine breite High-Ambition-Koalition aus mehr als 80 Staaten, die sich für ambitionierte Maßnahmen starkmachte – darunter verbindliche Produktionsgrenzen, ein Ausstieg aus gefährlichen Chemikalien und Finanzhilfen für ärmere Länder. Auf der anderen Seite: ein harter Block petrochemischer Produzenten, allen voran Saudi-Arabien, Russland und die USA. Ihr Gegenvorschlag? Mehr Abfallmanagement. Weniger Regulierung.

Die Bilanz: ein Vertragsentwurf ohne Zähne. Keine Obergrenzen für die Plastikproduktion. Kein Verbot gefährlicher Zusatzstoffe. Keine klaren Verpflichtungen.

Ein Symbolpapier – weiter nichts.

Ob und wann die Gespräche fortgesetzt werden, ist offen. Der politische Wille zur Einigung? Schwer zu greifen. Klar ist nur: Der Handlungsdruck steigt mit jedem verlorenen Tag. Plastikmüll vermehrt sich exponentiell, Mikroplastik sickert in Blut, Böden und Meere – doch zwischen Umweltschutz und wirtschaftlichen Interessen klafft ein Abgrund.

Einer, der sich nicht länger überbrücken lässt. Sondern konfrontiert werden muss. Mit Mut. Mit Klartext. Mit echten Regeln.

Konsens – oder Koma?

Verhandelt wird im UN-Stil: per Konsens. Das heißt, jeder der rund 175 teilnehmenden Staaten hat ein Vetorecht. Und das nutzen insbesondere die großen Plastik- und Petrochemie-Produzenten schamlos aus. Saudi-Arabien, Russland, China, die USA – sie stellen sich quer, sobald von „Produktionsbegrenzung“ die Rede ist.

Der Entwurf des Vertrags, den das Sekretariat zur Halbzeit der Verhandlungen vorlegte, war ein Schlag ins Gesicht für alle ambitionierten Staaten. Keine Rede mehr von Produktionsdeckeln. Keine Maßnahmen gegen toxische Chemikalien. Keine verbindlichen Verpflichtungen. „Der Vertrag hat sein Ziel verloren“, sagte Kenias Verhandlungsführerin Deborah Barasa. Und Juan Carlos Monterray Gomez aus Panama wurde noch deutlicher: „Das ist einfach widerlich.“


Die Zahlen sprechen eine andere Sprache

Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch – in erschreckender Klarheit.

🔹 736 Millionen Tonnen Plastik pro Jahr prognostiziert die OECD bis 2040, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
🔹 Schon 2020 wurde weniger als 10 % des weltweiten Plastikmülls recycelt. Der Rest landete auf Deponien, in Müllöfen oder direkt in der Umwelt.
🔹 Laut The Lancet verursacht Plastikverschmutzung jährlich 1,5 Billionen US-Dollar an Gesundheits- und Umweltschäden.

Die Botschaft: Plastik ist kein bloßes Müllproblem – sondern ein globaler Krisenherd.


Plastik macht krank – von der Wiege bis zum Grab

Besonders alarmierend ist der medizinische Befund. In einem offenen Brief anlässlich der Verhandlungen warnten führende Gesundheitswissenschaftler in The Lancet vor der unterschätzten Gesundheitsgefahr durch Plastikchemikalien.

Sie nennen es beim Namen:
„Plastik verursacht Krankheiten und Tod – von der Geburt bis ins hohe Alter.“

Expositionen gegenüber Weichmachern, Flammschutzmitteln, PFAS und anderen Additiven in Kunststoffen stehen im Verdacht, die Fruchtbarkeit zu mindern, Fehlgeburten und Missbildungen zu fördern, das Krebsrisiko zu erhöhen und Stoffwechsel- sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu begünstigen.

Und jetzt stellen wir uns mal vor: Diese Stoffe finden sich inzwischen in der Muttermilch, im Blut von Neugeborenen, in der Plazenta.

Wie viele rote Linien braucht es noch?


Wer blockiert – und warum?

Hinter den Kulissen wird klar: Der Widerstand gegen ein starkes Abkommen kommt nicht nur von Staaten. Auch die Industrie mischt kräftig mit.

Ein Zitat, das im Gedächtnis bleibt, stammt von Rachel Radvany von der NGO CIEL:

„Die Lobbyisten der fossilen Brennstoff- und Chemieindustrie ziehen nicht nur im Hintergrund die Fäden – sie nehmen das Mikrofon, sprechen im Plenum und treiben ihre Agenda ganz offen voran.“

Einer dieser Sprecher: Gregory Skelton vom International Council of Chemical Associations. Seine Botschaft: Man wolle schon etwas gegen Plastikmüll tun – aber bitte ohne die Vorteile von Plastik infrage zu stellen.

Klingt freundlich. Ist aber das Gegenteil von Transformation.


Die “High Ambition Coalition” kämpft weiter

Trotz allem gibt es Hoffnungsträger: Eine Allianz aus über 80 Staaten – angeführt von der Schweiz und Mexiko – fordert klare Regeln gegen toxische Chemikalien in Plastikprodukten. Auch die EU hat deutlich gemacht, dass der aktuelle Vertragsentwurf für sie nicht akzeptabel ist.

Camila Zepeda, Mexikos Chefverhandlerin, sagte klar:

„Dieses Abkommen muss auch helfen, die Gesundheit der Menschen zu schützen.“

Ein Wunsch. Eine Forderung. Ein Menschenrecht.


Und der globale Süden?

Viele Länder des globalen Südens gehören paradoxerweise zu den ambitioniertesten Unterstützern eines starken Abkommens. Warum? Weil sie die Folgen der Plastikkrise am unmittelbarsten spüren – und am wenigsten Ressourcen haben, um damit umzugehen.

Sie drängen nicht nur auf Produktionsbegrenzungen und Chemikalienregulierung, sondern auch auf ein solidarisches Finanzierungsmodell. Reiche Länder – viele davon große Müll-Exporteure – sollen beim Aufbau von Sammel-, Recycling- und Vermeidungsstrukturen helfen.

Aber auch das: blockiert.


UN-Konsensverfahren: Wenn ein Veto alles lahmlegt

Es ist ein altbekanntes Dilemma: In einem Konsensverfahren kann eine kleine Minderheit den Fortschritt für alle blockieren. Bei Klimaverträgen, Biodiversitätsabkommen – und jetzt auch beim Plastikpakt.

Die Frage liegt auf der Hand:
Können wir uns das noch leisten?

Oder braucht es künftig mutigere Formate – Koalitionen der Willigen, die vorangehen, auch wenn nicht alle mitziehen?

Was wir verlieren, wenn wir nichts tun

Jede Minute gelangt Plastik in die Ozeane. Mikroplastik findet sich im Regen über den Alpen, in Fischmägen, in menschlichem Lungengewebe. Ganze Inselstaaten kämpfen gegen Müllfluten. Und Kinder wachsen in einer Welt auf, in der selbst Sandstrände aus zerbröselten Verpackungen bestehen.

Plastik ist zum Symptom einer kranken Wirtschaftslogik geworden – linear, billig, blind gegenüber den sozialen und ökologischen Kosten.

Dabei gäbe es längst Alternativen: biobasierte Materialien, Mehrwegsysteme, intelligente Designansätze, Lieferketten ohne Einwegverpackung. Viele dieser Innovationen existieren – sie müssten nur skaliert werden. Politisch gefördert. Wirtschaftlich bevorzugt.

Doch solange die Rohstoffriesen weiter am Hebel sitzen, bleibt die Realität oft genau andersherum: Wer Plastik vermeidet, zahlt drauf. Wer es produziert, macht Gewinn.


Der Elefant im Raum: fossile Interessen

Plastik besteht nicht aus Luft und Liebe. Sondern zu 99 % aus fossilen Rohstoffen. Öl, Gas, Naphtha. Für die Petroindustrie ist Kunststoff ein Rettungsanker – ein Wachstumsfeld, während der Energiesektor zunehmend unter Druck gerät.

Ein Verbot oder auch nur eine Deckelung der Plastikproduktion wäre ein direkter Angriff auf dieses Geschäftsmodell. Genau deshalb ist der Widerstand so erbittert.

Ein Verhandlungsteilnehmer aus Kolumbien brachte es resigniert auf den Punkt:

„Wir können so nicht weitermachen.“


Hoffnung? Ja. Aber sie braucht Rückgrat.

Es ist frustrierend zu sehen, wie ein so dringendes Thema in diplomatischen Endlosschleifen feststeckt. Aber die globale Empörung wächst. NGOs, Wissenschaftler:innen, engagierte Staaten – sie alle fordern Nachbesserungen, Transparenz, Beteiligung.

Die Wissenschaft ist eindeutig. Die Öffentlichkeit ist bereit. Jetzt braucht es nur noch eins: politischen Mut.

Zwei Fragen bleiben offen:

Wie viele vergiftete Generationen wollen wir noch tolerieren?

Und wer hat wirklich das letzte Wort – die Demokratie oder die Plastiklobby?

Autor: Andreas M. Brucker

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