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Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu am 19. März 2025 markiert einen dramatischen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der Türkei. Die Reaktion auf die Festnahme war unmittelbar: landesweite Proteste, internationale Kritik und ein erneutes Aufflammen der Debatte um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Land. Inmitten wachsender Spannungen zwischen Regierung und Opposition steht die Türkei vor einer Phase politischer Unwägbarkeit.

İmamoğlu, eine der populärsten Persönlichkeiten der Opposition, war kurz vor seiner offiziellen Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP) für die Wahl 2028 ins Visier der Justiz geraten. Die Anklagepunkte – Korruption, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Unterstützung der PKK – werden von seinen Anhängern als konstruiert und politisch motiviert angesehen.

Eine gezielte Schwächung der Opposition?

Die Festnahme des Bürgermeisters erfolgte in einem politisch aufgeladenen Moment. Seit seinem spektakulären Wahlsieg bei der Istanbuler Kommunalwahl 2019 gilt Ekrem İmamoğlu als ernstzunehmender Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Dass nun ausgerechnet er ins Fadenkreuz der Justiz gerät, interpretieren viele Beobachter als Versuch der Regierung, mögliche Konkurrenten frühzeitig auszuschalten.

Tatsächlich zeigen jüngste Umfragen, dass İmamoğlu über ein hohes Maß an Vertrauen in der Bevölkerung verfügt – auch über die Grenzen seiner Partei hinaus. Insbesondere bei städtischen, jungen und gebildeten Wählergruppen konnte er Erfolge verbuchen. Seine politische Rhetorik, die auf Ausgleich und institutionelle Reformen setzt, stellt einen Kontrapunkt zum konfrontativen Regierungsstil der AKP dar. In diesem Kontext wirkt die Festnahme wie ein autoritärer Reflex in einem zunehmend umkämpften politischen System.

Eskalierende Proteste und polizeiliche Repression

Unmittelbar nach Bekanntwerden der Festnahme bildeten sich in mehreren Großstädten spontane Protestzüge. In Istanbul versammelten sich Tausende vor dem Polizeihauptquartier, riefen Parolen für Demokratie und forderten die Freilassung İmamoğlus. In Ankara, Izmir, Bursa und Diyarbakır schlossen sich immer mehr Menschen den Protesten an. Landesweit kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften.

Die staatliche Reaktion fiel erwartungsgemäß hart aus: Bereits am ersten Abend wurden Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt. Die Behörden verhängten Demonstrationsverbote, hunderte Menschen wurden festgenommen. Menschenrechtsorganisationen berichten von teils übermäßiger Gewaltanwendung und willkürlichen Verhaftungen – ein Vorgehen, das international für Empörung sorgt.

Der Rechtsstaat unter Druck

Die türkische Justiz steht seit Jahren im Zentrum internationaler Kritik. Immer wieder wurde ihr vorgeworfen, nicht unabhängig, sondern politisch beeinflusst zu agieren. Die Prozesse gegen oppositionelle Politiker, kritische Journalisten oder Akademiker erwecken den Eindruck eines Instruments zur Machtsicherung der Regierung.

Auch im Fall İmamoğlu gibt es Hinweise auf eine gezielte Instrumentalisierung der Justiz: Die Ermittlungen wurden auffällig schnell geführt, und die Beweise gegen den Bürgermeister gelten als dürftig. Bereits 2022 war İmamoğlu wegen „Beleidigung von Wahlbeamten“ verurteilt worden – ein Urteil, das später juristisch angefochten wurde. Die jetzige Inhaftierung erscheint vielen daher als Wiederholung eines bekannten Musters.

Internationale Kritik und geopolitische Folgen

Die Reaktionen aus dem Ausland ließen nicht lange auf sich warten. Die Europäische Union zeigte sich „zutiefst besorgt“ über die Entwicklungen in der Türkei und forderte eine umgehende Freilassung des Bürgermeisters. Auch das Auswärtige Amt in Berlin und die US-Regierung äußerten sich kritisch. Human Rights Watch und Amnesty International sprachen von einem „weiteren Tiefpunkt der türkischen Demokratie“.

Diese internationale Aufmerksamkeit hat nicht nur symbolischen Wert. Die Türkei ist wirtschaftlich und sicherheitspolitisch eng mit dem Westen verbunden. Besonders in Zeiten geopolitischer Unsicherheiten – etwa im Nahen Osten oder im Schwarzen Meer – ist Ankara ein wichtiger, wenngleich schwieriger Partner. Eine weitere Destabilisierung der innenpolitischen Lage könnte auch außenpolitische Konsequenzen nach sich ziehen.

Ein Wendepunkt?

Die Proteste gegen die Festnahme İmamoğlus könnten das politische Kräfteverhältnis in der Türkei nachhaltig verändern. Zum einen könnte das Vorgehen der Regierung die Opposition einen – eine Entwicklung, die seit Jahren nur schleppend vorankam. Zum anderen besteht die Gefahr, dass die Regierung auf eine Eskalationsstrategie setzt, um ihre Macht zu sichern.

Offen ist derzeit, wie sich die CHP verhalten wird. Parteivorsitzender Özgür Özel hat zwar İmamoğlus Unschuld beteuert, aber bislang keine klare Strategie für die kommenden Wochen vorgelegt. Eine neue Präsidentschaftskandidatur müsste entweder durchgesetzt oder rasch neu justiert werden. Die Glaubwürdigkeit der Partei steht dabei ebenso auf dem Spiel wie die Hoffnung auf demokratische Veränderung.

Insgesamt zeigt der Fall İmamoğlu, wie fragil das politische Gleichgewicht in der Türkei derzeit ist. Die Regierung setzt auf Repression, die Opposition auf Mobilisierung – doch der Ausgang dieses Machtkampfes ist ungewiss. Die nächsten Wochen könnten über die demokratische Zukunft des Landes entscheiden.

P.T.

Quellen:

  • Tagesschau.de, „Proteste nach Festnahme von İmamoğlu“, 21. März 2025
  • BBC, „Turkey: Istanbul mayor arrested on politically motivated charges“, 20. März 2025
  • Human Rights Watch, Pressemitteilung, 21. März 2025
  • Al Jazeera, „Mass protests erupt after Turkey detains opposition mayor“, 21. März 2025
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