Tag & Nacht


Die Bilder aus Vélizy-Villacoublay wirken choreographiert wie aus einem Rüstungsdokumentarfilm der Zukunft: Präsident Volodymyr Selenskyj, in olivgrünem Pullover, an der Seite von Emmanuel Macron, umringt von Rafale-Kampfjets, umgeben von französischen Trikoloren und ukrainischen Flaggen. Was am Montag, dem 17. November 2025, auf dem Militärstützpunkt südwestlich von Paris unterzeichnet wurde, ist keine bloße bilaterale Geste – es markiert eine strategische Neujustierung in der sicherheitspolitischen Architektur Europas.

Eine Absichtserklärung mit Sprengkraft

Formell handelt es sich bei dem unterzeichneten Dokument um eine lettre d’intention, eine politische Willensbekundung und keine rechtsverbindliche Kaufvereinbarung. Dennoch sind die Dimensionen des geplanten Geschäfts beachtlich: Bis zu 100 Kampfflugzeuge des Typs Dassault Rafale F4 sollen über einen Zeitraum von zehn Jahren an die Ukraine geliefert werden. Hinzu kommen modernste Luftabwehrsysteme (u. a. SAMP/T), Aufklärungsdrohnen, Radare, Präzisionsbomben und Flugkörper westlicher Bauart. Der Gesamtwert des Pakets wird auf einen zweistelligen Milliardenbetrag geschätzt – genaue Summen nennen bislang weder Paris noch Kiew.

Für Frankreich wäre es der größte Einzelauftrag seiner Rüstungsindustrie seit Jahrzehnten, für die Ukraine ein technologischer Quantensprung im Bereich der Luftkriegsführung.

Symbolischer Paradigmenwechsel

Bislang hatte die Ukraine – seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 – vor allem auf westliche Militärhilfen in Form von Spenden oder Second-Hand-Gerät gesetzt: Patriot-Batterien aus den USA, Leopard-Panzer aus Deutschland, MiG-29 aus Slowenien. Nun aber wechselt das Narrativ: Die Ukraine tritt als Kunde auf, als Partner eines industriellen Großprojekts mit strategischem Tiefgang. Für Emmanuel Macron ist dies die greifbare Umsetzung seiner schon 2017 formulierten Idee von einer „souveränen europäischen Verteidigungspolitik“.

Auch geopolitisch ist die Geste nicht zu unterschätzen. Frankreich positioniert sich klar als treibende Kraft im transatlantischen Bündnis, jedoch mit europäischer Handschrift – und einem französischen Industriesiegel.

Chancen für Industrie und Verteidigungspolitik

Die Rafale ist nicht irgendein Kampfjet. Sie ist das Flaggschiff der französischen Luftwaffe, mit Schubvektorsteuerung, AESA-Radar, Netzwerkfähigkeit und nuklearer Einsatzoption. Die Version F4, die nun zur Debatte steht, ist vollständig NATO-kompatibel, AI-gestützt und mit modernster Sensorik ausgestattet. Sie soll ab 2027 serienmäßig verfügbar sein – rechtzeitig also, um erste Einheiten bis 2030 nach Kiew zu liefern, vorausgesetzt die Finanzierung steht.

Für Dassault Aviation bedeutet der Deal eine Verfestigung seiner Stellung am Weltmarkt. Die Rafale ist bereits nach Indien, Ägypten, Katar, Griechenland und Indonesien verkauft worden. Mit der Ukraine bekäme sie nun eine Frontrolle in einem realen Kriegsszenario gegen Russland – ein militärisches Testfeld mit heiklem geopolitischen Beigeschmack, aber auch einem enormen Referenzwert.

Gleichzeitig signalisiert Frankreich seine Bereitschaft, nicht nur politisch, sondern auch materiell Verantwortung für die europäische Sicherheitsarchitektur zu übernehmen – und dies in einem Moment, in dem sich die USA wieder erneut und ausschließlich auf Trumps MAGA konzentrieren.

Offene Fragen und operative Fallstricke

Doch der Weg von der Unterzeichnung zur Lieferung ist lang. Schon heute ist klar, dass das Projekt an mehreren neuralgischen Punkten hängt:

  1. Finanzierung: Weder Paris noch Kiew haben bisher dargelegt, wie der Milliardenbetrag aufgebracht werden soll. Ein europäisches Co-Finanzierungsmodell – etwa über die European Peace Facility – ist denkbar, aber politisch nicht beschlossen. Auch eine Kreditgarantie über die französische Rüstungsagentur oder eine Sonderfinanzierung über multilaterale Banken wäre möglich. Konkretes liegt nicht vor.
  2. Ausbildung und Integration: Die Umschulung ukrainischer Piloten auf Rafale-Standards ist kein Nebenprojekt. Es bedarf mehrjähriger Schulungen, Trainingsflüge in Frankreich, Simulationszentren und schließlich einer operativen Eingliederung in ein interoperables Luftverteidigungssystem. Die logistische Kette, vom Bodenpersonal über Ersatzteile bis zu den IT-Systemen, müsste neu aufgebaut werden.
  3. Zeithorizont: Die erste Lieferung wird frühestens 2028 erwartet, der vollständige Aufbau wohl nicht vor 2035. Damit liegt der Nutzen für die aktuelle militärische Lage nahe Null. Vielmehr handelt es sich um ein Langzeitprojekt – mit strategischem Charakter.
  4. Politische Volatilität: Ein Regierungswechsel in Frankreich oder der Ukraine, Haushaltszwänge, Druck aus Brüssel oder Washington könnten das Projekt gefährden. Auch ist unklar, ob Russland eine solche Aufrüstung als Eskalation interpretiert – und entsprechend reagiert.

Europa im Schatten des Krieges

Der Deal zeigt: Europa beginnt sich auf eine langfristige Konfrontation mit Russland einzurichten. Die Vorstellung aus dem Jahr 2022, dass der Krieg ein kurzfristiger Schock sein könnte, ist der Erkenntnis gewichen, dass Moskaus Imperialpolitik strukturell verankert ist – und eine neue Sicherheitsarchitektur unumgänglich macht. Die französische Initiative kann deshalb auch als Signal an Berlin verstanden werden: Weg von einer Politik der vorsichtigen Waffenlieferungen – hin zu einem europäischen Rüstungssouverän.

Für die Ukraine ist der Schritt riskant, aber notwendig. Die Reformierung ihrer Luftwaffe wird Jahre dauern, doch der Aufbau moderner Verteidigungskapazitäten ist essenziell – nicht nur zur Abschreckung, sondern auch, um langfristig NATO-kompatibel zu sein.

Der Vertrag bleibt vorerst eine Absichtserklärung. Doch seine symbolische Kraft ist erheblich: Europa beginnt, in Verteidigungsszenarien zu denken, die nicht von Washington, sondern von Paris, Warschau oder Stockholm initiiert werden.

Autor: P. Tiko

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