Die Schweiz hat ein völkerrechtlich heikles, politisch jedoch wohlkalkuliertes Zeichen gesetzt: Präsident Wladimir Putin könnte, trotz eines Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), zu einer möglichen Friedenskonferenz in die Schweiz einreisen – ohne Festnahme. Dies wäre allerdings nur unter engen Voraussetzungen möglich. Die Entscheidung verdeutlicht den diplomatischen Spagat zwischen rechtlicher Verpflichtung und dem Selbstverständnis der Schweiz als neutraler Vermittlerin.
Völkerrechtliche Verpflichtung und politischer Spielraum
Seit März 2023 besteht gegen den russischen Präsidenten ein internationaler Haftbefehl. Die Anklage des IStGH stützt sich auf mutmaßliche Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit der Deportation ukrainischer Kinder. Als Vertragsstaat des Römischen Statuts ist die Schweiz grundsätzlich zur Festnahme Putins verpflichtet, sollte er ihr Territorium betreten.
Gleichzeitig sieht die Schweizer Rechtsordnung in Einzelfällen die Möglichkeit vor, von dieser Pflicht abzuweichen – etwa wenn es um eine hochoffizielle Teilnahme an einer Friedenskonferenz geht. Diese Ausnahme stützt sich auf eine völkerrechtlich anerkannte Praxis, die diplomatischen Immunitätsschutz unter eng definierten Bedingungen erlaubt, um politische Prozesse wie Verhandlungen oder Gipfeltreffen nicht zu gefährden.
Cassis’ Klarstellung: Keine Immunität für Privatreisen
Außenminister Ignazio Cassis betonte kürzlich, dass die Regierung bereits im Vorjahr eine Regelung verabschiedet habe, die Immunität unter bestimmten Umständen zulässt – jedoch ausschließlich im Rahmen offizieller diplomatischer Missionen. Ein solcher Anlass könnte etwa eine internationale Friedenskonferenz zur Ukraine darstellen. Eine Einreise aus privaten oder bilateralen Gründen dagegen würde keinen Schutz vor Festnahme gewähren.
Mit dieser Klarstellung reagiert der Bundesrat auch auf Spekulationen, die Schweiz könnte sich ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung entziehen. Vielmehr signalisiert die Regierung, dass jede Ausnahmeentscheidung rechtlich fundiert und politisch begründet sein muss.
Der IStGH und die umstrittene Frage der Immunität
Der Internationale Strafgerichtshof verfolgt seit seiner Gründung einen grundsätzlichen Ansatz: Auch amtierende Staatschefs genießen keine Immunität, wenn sie mutmaßlich schwere Verbrechen begangen haben. Dieses Prinzip wurde etwa im Fall des früheren sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir angewandt. Die Praxis hat jedoch wiederholt für Spannungen gesorgt – vor allem, wenn betroffene Staaten mit dem Dilemma zwischen völkerrechtlicher Verpflichtung und diplomatischem Kalkül konfrontiert wurden.
In der Schweiz hat man sich bemüht, genau diesen Zielkonflikt institutionell aufzufangen. Die Regelung, die nun Anwendung finden könnte, soll sicherstellen, dass die Teilnahme an einer Friedenskonferenz nicht durch juristische Automatismen verunmöglicht wird, ohne jedoch den völkerrechtlichen Rahmen zu sprengen.
Neutralität als politisches Leitmotiv
Die Position der Schweiz ist nicht zuletzt auch durch ihr außenpolitisches Selbstverständnis geprägt. Seit Jahrzehnten pflegt Bern eine diplomatische Rolle als Gastgeberin für internationale Verhandlungen – ob bei den Genfer Abrüstungsgesprächen, der Syrien-Friedenskonferenz oder beim historischen Treffen zwischen Reagan und Gorbatschow. Die Bereitschaft, als neutraler Boden für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zu fungieren, ist damit nicht nur Ausdruck außenpolitischer Aktivität, sondern Teil einer bewährten Tradition.
Gleichzeitig signalisiert die Schweiz mit der nun diskutierten Immunitätsregel, dass Neutralität nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf: Die rechtliche Dimension bleibt bestehen, doch politische Realitäten erfordern manchmal flexiblere, pragmatische Antworten.
Die Entscheidung, Putin unter bestimmten Bedingungen Immunität zu gewähren, ist weder Kapitulation noch Opportunismus. Vielmehr verdeutlicht sie das diplomatische Spannungsverhältnis zwischen normativem Anspruch und realpolitischer Vermittlung. In einer Welt wachsender geopolitischer Spannungen bietet sich der Schweiz damit erneut die Chance, eine konstruktive Rolle im internationalen System zu spielen – ohne ihre völkerrechtliche Integrität zu verlieren.
Autor: Andreas M. Brucker
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