Am 28. Juni 2025 versammelten sich in Belgrad schätzungsweise 140.000 Demonstrierende, um vorgezogene Parlamentswahlen zu fordern. Auslöser war der Einsturz der Dachkonstruktion des Bahnhofs in Novi Sad im November 2024, bei dem 16 Menschen starben. Was als stille Mahnwache begann, entwickelte sich zu einer der größten Protestbewegungen seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Jahr 2000.
Der Dach-Einsturz in Novi Sad offenbarte nicht nur bauliche Missstände, sondern weckte auch tiefer liegende Ressentiments gegenüber einem System, das von vielen als korrupt und autoritär wahrgenommen wird. Studierende organisierten die ersten Mahnwachen, gefolgt von Dauerblockaden wichtiger Verkehrsadern. Das Ziel: umfassende Aufklärung, Rücktritte politisch Verantwortlicher und strukturelle Reformen.
Innerhalb weniger Wochen wuchs die Bewegung weit über die Studentenschaft hinaus. Landwirte, Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte sowie Rentner schlossen sich an. Im März 2025 gipfelte der Unmut in der „15 für 15“-Aktion: 15 Kilometer lange Menschenketten mit bis zu 325.000 Teilnehmenden, was Erinnerungen an die Massendemonstrationen im Jahr 2000 weckte.
28. Juni 2025: Symbolik, Konfrontation und Repression
Die jüngste Großkundgebung fiel auf den Vidovdan, einen national und religiös bedeutsamen Gedenktag. Zehntausende zogen friedlich durch die Hauptstadt, bis es am Abend zu gewaltsamen Zusammenstößen kam. Die Polizei setzte Tränengas ein, nahm über 70 Personen fest, mehrere Menschen wurden verletzt.
Vučićs Reaktion: Eskalation statt Dialog
Präsident Aleksandar Vučić wählte eine harte Linie. Er bezeichnete die Protestierenden als „Terroristen“, ließ Gegendemonstrationen organisieren und wies Polizei und Justiz an, mit Terrorismus- und Verfassungsbruchvorwürfen gegen führende Aktivisten vorzugehen. Frühere Erfahrungen mit Protestbewegungen zeigen: Vučić setzt konsequent auf Abschreckung, während er zugleich versucht, seine internationale Reputation als Stabilitätsanker der Region zu wahren.
Die Protestbewegung ist längst mehr als eine Reaktion auf ein tragisches Unglück. Sie ist Ausdruck eines wachsenden demokratischen Selbstbewusstseins, vor allem der jungen Generation, die sich nicht länger mit einem von Korruption und klientelistischen Netzwerken geprägten Staat abfinden will. Ob daraus ein nachhaltiger politischer Wandel erwächst oder die Bewegung unter staatlicher Repression zersplittert, wird sich in den kommenden Monaten entscheiden.
Die Lehre aus dem Umsturz von 2000 bleibt präsent: Demokratischer Wandel in Serbien ging stets von unten aus – getragen von einer Zivilgesellschaft, die Rechtsstaatlichkeit und europäische Werte einfordert. Diese Dynamik könnte nun erneut an Kraft gewinnen.
Autor: P. Tiko
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