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Seit dem Herbst 2025 wabert ein vertrauter Name immer wieder durch die Schlagzeilen: Tony Blair. Der ehemalige britische Premierminister, einst Architekt des „New Labour“-Zeitalters und später umstrittener Kriegsteilnehmer neben den USA im Irak, soll nun angeblich als „neutraler“ Vermittler oder gar als Leiter einer internationalen Übergangsverwaltung in Gaza auftreten. Washington soll ihn im Auge haben, heißt es. Ein „Gouverneur der Transition“, der die Nachkriegsordnung im zerstörten Küstenstreifen organisieren soll. Klingt nach Stabilität. Oder nach einem Déjà-vu?

Eine neue Behörde für ein altes Problem

Das Konzept, das aus den Schubladen der US-Diplomatie stammt, trägt den technokratischen Namen Gaza International Transitional Authority (GITA). Hinter diesem Akronym verbirgt sich der Versuch, die politische und administrative Kontrolle in Gaza zeitweise einer internationalen Instanz zu überlassen – angeblich neutral, faktisch aber von westlichen Akteuren entworfen.

Der Plan sieht eine Art „Board of Peace“ vor, in dem Blair als Mitglied oder gar Vorsitzender fungieren könnte – an der Seite von niemand Geringerem als Donald Trump. Eine Mischung aus diplomatischer Routine und politischer Sprengkraft. Diese Übergangsverwaltung soll öffentliche Dienste wiederherstellen, Infrastruktur aufbauen, wirtschaftliche Planung betreiben und zugleich mit einer multinationalen Sicherheitskraft aus Ägypten heraus in Gaza einziehen. Später, so das Versprechen, würde die Kontrolle schrittweise an die geschwächte Palästinensische Autonomiebehörde übergehen.

Das klingt nach internationaler Fürsorge – oder nach einer Reinszenierung bekannter Modelle aus dem Kosovo oder dem Osttimor, wo westlich gelenkte Übergangsregime ebenfalls Frieden sichern sollten. Doch Gaza ist kein Protektorat. Gaza ist ein Pulverfass.

Blairs Erfahrung – Segen oder Hypothek?

Niemand bestreitet, dass Tony Blair die Sprache der Diplomatie beherrscht. Zwischen 2007 und 2015 war er Sondergesandter des sogenannten Quartetts (UNO, EU, USA und Russland) für den Nahost-Friedensprozess. Er kennt die handelnden Personen, die Codes, die zähen Gremienrunden. In den Balkanstaaten, besonders im Kosovo, gilt er bis heute als Symbol westlicher Entschlossenheit – ein Mann, der half, Krieg zu beenden.

Diese Aura nutzt ihm: In einer Region, die unter politischer Lähmung leidet, könnte ein internationaler Akteur tatsächlich vermitteln, wo lokale Rivalitäten jede Bewegung blockieren. Blair, der Pragmatiker, als Koordinator von Hilfsgeldern, NGOs und Wiederaufbauprojekten – das hätte auf dem Papier Charme.

Aber Diplomatie ist kein Rechenexempel. Und Neutralität kein Jobtitel.

Die Kratzer im Heiligenschein

Denn Tony Blair ist vieles – nur kein unbeschriebenes Blatt. Sein Name ist für Millionen Araber untrennbar mit dem Irakkrieg 2003 verbunden, einer Intervention, die auf falschen Prämissen beruhte und eine ganze Region in Brand setzte. Diese Hypothek lässt sich nicht einfach abstreifen. Für viele Palästinenser steht Blair eher für westliche Doppelmoral als für Friedensfähigkeit.

Hamas hat bereits erklärt, Blair sei in Gaza „nicht willkommen“. Und auch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft herrscht Skepsis: Wer, fragen viele, gibt einem britischen Ex-Premier das moralische Mandat, das Schicksal Gazas mitzubestimmen?

Ein solches Projekt riecht für viele nach politischem Paternalismus – nach einem „von außen verordneten“ Friedensmodell, das lokale Stimmen marginalisiert. Der Gedanke, dass ausgerechnet die Mächte, die Jahrzehnte lang in der Region intervenierten, nun „neutral“ ordnen wollen, wirkt auf viele schlicht zynisch.

Die Illusion der Neutralität

Selbst wenn man Blair guten Willen unterstellt: Wie neutral kann jemand sein, der über Jahrzehnte eng mit Washington und London verbunden war? Seine heutige Tätigkeit als Gründer des Tony Blair Institute for Global Change positioniert ihn zwischen Diplomatie, Beratung und Wirtschaft – eine Grauzone, in der Interessen, Einfluss und Idealismus schwer zu trennen sind.

Und selbst eine theoretische Neutralität stößt in der Praxis an Grenzen. Wer über Wiederaufbau entscheidet, über Sicherheitskräfte, über Verträge und Partner, trifft politische Entscheidungen – unausweichlich. Jede Priorität, jede Ausschreibung, jeder Kompromiss verschiebt die Machtverhältnisse.

Blair stünde also nicht nur vor einem moralischen, sondern auch vor einem strukturellen Dilemma: Jede Handlung würde als Parteinahme gelesen. Neutralität in Gaza ist keine Haltung, sie ist ein Balanceakt über einem Minenfeld.

Zwischen Vakuum und Kontrolle

Trotzdem gibt es Argumente, die für eine Figur wie Blair sprechen. Gaza steht nach Jahren von Krieg und Blockade vor einem politischen Vakuum. Die palästinensische Autonomiebehörde hat an Autorität verloren, Hamas ist militärisch geschwächt und international isoliert. Jemand muss die ersten Schritte beim Wiederaufbau koordinieren – und das Vertrauen der Geberländer sichern.

Doch genau darin liegt die Gefahr: Wenn internationale Kontrolle die lokale Selbstbestimmung ersetzt, droht ein neuer Zyklus von Abhängigkeit. Schon einmal – nach Oslo, nach Annapolis, nach endlosen Konferenzen – wurden Palästinenserinnen und Palästinenser zu Zuschauern ihres eigenen Friedensprozesses degradiert.

Will man wirklich noch einmal denselben Fehler machen?

Fazit: Nützlich, aber nie neutral

Tony Blair als Architekt einer Übergangsordnung in Gaza – das könnte Stabilität bringen, zumindest kurzfristig. Aber die Idee, dass er ein „neutraler“ Mediator wäre, ist ein politischer Mythos. Seine Erfahrung ist wertvoll, sein Netzwerk global – doch sein Name trägt zu viel Ballast, zu viel westliche Geschichte, zu viel Skepsis.

Ein solches Mandat könnte nur funktionieren, wenn es an klare Bedingungen geknüpft wäre: Transparenz über Entscheidungsstrukturen, echte lokale Mitsprache und ein verbindlicher Fahrplan für den Abzug der internationalen Verwaltung. Ohne diese Garantien droht aus der vermeintlichen Friedensmission eine Neuauflage alter Machtverhältnisse zu werden – mit allen bekannten Folgen.

Vielleicht braucht Gaza tatsächlich einen Übergangshelfer.
Aber ganz sicher keinen Retter.

Autor: Andreas M. Brucker

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