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Die Verhaftung von Ekrem İmamoğlu, Bürgermeister von Istanbul und zentrale Figur der türkischen Opposition, am 19. März 2025 hat das politische Klima in der Türkei dramatisch verändert. Seit Tagen protestieren Hunderttausende Menschen in Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir. Sie sehen in der Maßnahme einen klaren Versuch der Regierung, einen aussichtsreichen Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan auszuschalten. Die Ereignisse werfen ein grelles Licht auf die fragile Lage der türkischen Demokratie.

Eine drohende politische Entmachtung

İmamoğlu war in den vergangenen Jahren zu einem Hoffnungsträger der Opposition avanciert. Als Mitglied der sozialdemokratisch-kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) hatte er bereits 2019 mit seinem Wahlsieg in Istanbul ein politisches Erdbeben ausgelöst – und dies 2024 durch seine Wiederwahl bestätigt. In einer politischen Landschaft, die seit über zwei Jahrzehnten von der AKP und Erdoğan dominiert wird, galt İmamoğlu vielen als glaubwürdige Alternative für das Präsidentenamt im Jahr 2028.

Doch seine politische Laufbahn geriet frühzeitig unter Druck. 2022 wurde er in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil er Beamte der Hohen Wahlkommission beleidigt haben soll. Dieses Urteil schloss ihn faktisch von politischen Ämtern aus. Im März 2025 folgte schließlich die Aberkennung seines Hochschulabschlusses – ein Schritt, der seine Präsidentschaftskandidatur auch formal infrage stellte. Kurz darauf wurde er verhaftet. Die Abfolge dieser Ereignisse legt den Verdacht nahe, dass der Justizapparat gezielt gegen einen missliebigen Oppositionspolitiker eingesetzt wurde.

Ein Land im Protestmodus

Unmittelbar nach Bekanntwerden der Verhaftung versammelten sich Tausende Menschen vor dem Rathaus von Istanbul. Die Rufe „İmamoğlu, du bist nicht allein!“ und „Erdoğan, Diktator!“ hallten durch die Straßen. Auch in Ankara, Izmir und anderen Großstädten kam es zu Protestmärschen, insbesondere unter der Beteiligung junger Menschen und Studierender. Die Regierung reagierte mit rigiden Maßnahmen: Demonstrationen wurden zunächst in Istanbul, später auch landesweit verboten. Dennoch gingen die Proteste weiter, es kam zu zahlreichen Festnahmen, darunter auch prominente CHP-Mitglieder und Journalisten. Berichte über Polizeigewalt und übermäßigen Einsatz von Tränengas mehren sich.

Die Lage erinnert viele an die Gezi-Proteste von 2013. Damals hatte ein lokaler Umweltkonflikt zu landesweiten Demonstrationen gegen die autoritäre Regierungsführung Erdoğans geführt. Auch heute verbindet sich der unmittelbare Anlass – die Verhaftung eines oppositionellen Spitzenpolitikers – mit einem tiefer liegenden Unmut über die politischen und wirtschaftlichen Zustände.

Ökonomische Spannungen als Brandbeschleuniger

Die Türkei steckt weiterhin in einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise. Die Inflation liegt im zweistelligen Bereich, die Landeswährung hat massiv an Wert verloren. Für breite Teile der Bevölkerung bedeutet das eine erhebliche Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse. Lebensmittelpreise steigen rasant, die Jugendarbeitslosigkeit bleibt hoch, und die Reallöhne sinken. Diese wirtschaftlichen Belastungen wirken wie ein Katalysator für die politische Unzufriedenheit.

Insbesondere die urbane Mittelschicht, die in den Metropolen lebt und zunehmend unter der Teuerung leidet, zeigt sich empfänglich für oppositionelle Forderungen nach mehr Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und demokratischer Kontrolle. Die Demonstrationen der letzten Tage spiegeln deshalb nicht nur die Empörung über İmamoğlus Verhaftung wider, sondern auch eine tiefere Sehnsucht nach politischem Wandel.

Ein Test für die Opposition

Die CHP steht nun vor einer strategischen Entscheidung. Parteichef Özgür Özel kündigte bereits an, an İmamoğlus Kandidatur für das Präsidentenamt festhalten zu wollen – ungeachtet seiner Inhaftierung. Damit setzt die Partei ein deutliches Zeichen der Geschlossenheit, riskiert aber auch einen offenen Konflikt mit staatlichen Institutionen. Andere Oppositionsparteien, darunter die pro-kurdische DEM-Partei und die nationalkonservative IYI-Partei, haben sich ebenfalls mit İmamoğlu solidarisiert. In diesen Tagen formiert sich erneut ein überparteiliches Bündnis gegen die Machtfülle des Präsidentenlagers – eine Entwicklung, die bereits im Vorfeld der Parlamentswahlen 2023 zu beobachten war, damals jedoch ohne nachhaltigen Erfolg blieb.

Ob es diesmal gelingt, aus der Empörung politisches Kapital zu schlagen, bleibt offen. Die Regierungsseite setzt derweil auf Härte. Erdoğan äußerte sich bislang nur indirekt zur Lage, ließ aber über regierungsnahe Medien verlauten, dass „niemand über dem Gesetz“ stehe. Die Justiz betont unterdessen ihre Unabhängigkeit – ein Narrativ, das in der aufgeheizten Atmosphäre wenig Glaubwürdigkeit genießt.

Ein Land am Scheideweg

Die Türkei steht vor einer Bewährungsprobe. Die Regierung kann versuchen, durch weitere Repression die Proteste zu ersticken – eine Strategie, die zwar kurzfristige Stabilität bringen mag, langfristig jedoch das Vertrauen in den Staat weiter untergräbt. Alternativ könnte sie auf Deeskalation setzen, etwa durch die Freilassung İmamoğlus oder die Einleitung eines Dialogprozesses mit der Opposition. Bislang deutet jedoch wenig auf einen solchen Kurswechsel hin.

Auch das Ausland beobachtet die Lage mit wachsendem Interesse. Westliche Regierungen haben bislang zurückhaltend reagiert, wohl aus Rücksicht auf die geostrategische Bedeutung der Türkei in der NATO und bei der Steuerung von Migrationsbewegungen. Doch mit zunehmender Eskalation dürften auch die internationalen Reaktionen schärfer ausfallen – nicht zuletzt wegen der symbolischen Bedeutung İmamoğlus für die demokratische Opposition im Land.

Am Ende steht die Erkenntnis, dass sich in der Türkei ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht. Die Proteste der letzten Tage sind Ausdruck eines wachsenden politischen Bewusstseins und einer Zivilgesellschaft, die sich nicht mehr mit autoritären Mitteln disziplinieren lässt. Wie nachhaltig diese Entwicklung ist, wird sich in den kommenden Monaten zeigen – spätestens bei den nächsten nationalen Wahlen.

Autor: P. Tiko

Quellen:
BBC Türkçe, Al-Monitor, Deutsche Welle Türkçe, France 24, T24, Euronews Turkey

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