Tag & Nacht


Eigentlich sollte der 1. September 2025 der gewohnte Auftakt ins neue Schuljahr sein – für Eltern, Kinder und Lehrkräfte ein fester Termin im Kalender, der verlässlich wie der Sonnenaufgang kommt. Doch in diesem Jahr ist manches anders. In den südfranzösischen Départements Bouches-du-Rhône und Var bleibt es am Montagmorgen still auf den Schulhöfen. Kein Gewusel, kein Klingeln, keine Eltern mit Schulkindern an der Hand. Stattdessen: Starkregen, Gewitter und eine Entscheidung, die Sicherheit über Routine stellt.

Der Grund für diese ungewöhnliche Maßnahme ist eine Wetterlage, die selbst für die Unwetter-erprobten Regionen Südfrankreichs alles andere als gewöhnlich ist. Météo-France hat eine sogenannte „Vigilance orange“ – also eine Warnstufe für erhebliche Wettergefahren – für große Teile des Südostens ausgerufen. Im Fokus: sintflutartige Regenfälle, begleitet von blitzintensiven, stehenden Gewittern. In den Bouches-du-Rhône werden stündliche Niederschläge von 40 bis 60 Litern erwartet, mit punktuellen Spitzenwerten von bis zu 150 Litern. Zum Vergleich: Das ist mehr als ein Drittel des durchschnittlichen Monatsniederschlags – in nur einer Stunde.

Diese Gewitter sind dabei nicht nur heftig, sondern auch träge. Sie bewegen sich kaum, entladen sich lokal mit voller Wucht – und erhöhen dadurch das Risiko für plötzliche Überschwemmungen erheblich. Straßen können binnen Minuten unpassierbar werden, Bäche zu reißenden Strömen anschwellen. Ein Szenario, das im Kontext des Schulstarts ein unkalkulierbares Risiko darstellt.

Schulen dicht, Busse gestoppt

Die Entscheidung fiel am Sonntagabend: Alle Bildungseinrichtungen – von der Vorschule bis zum Gymnasium – bleiben am Montag geschlossen. Auch die Universität Aix-Marseille verschiebt ihren Semesterstart um einen Tag. Die Schulbusse bleiben in den Depots, der Unterricht beginnt frühestens am Dienstag.

Ein drastischer Schritt? Vielleicht. Doch für die Präfekturen beider Départements war klar: Sicherheit geht vor. Georges-François Leclerc, der Präfekt der Bouches-du-Rhône, formulierte es so: „Es war keine leichte Entscheidung – aber wir setzen nicht das Leben von Kindern und Eltern aufs Spiel.“

Zustimmung von allen Seiten

Überraschend einhellig fällt die Reaktion auf die Maßnahme aus – ein seltener Konsens in einem oft polarisierten Bildungsdiskurs. Lehrergewerkschaften und Elternverbände begrüßen die Entscheidung ausdrücklich. Für Sébastien Fournier vom SNUipp-FSU, der größten Grundschullehrergewerkschaft Frankreichs, ist die Maßnahme „absolut gerechtfertigt angesichts der Wetterprognosen“. Auch Christophe Merlino von der Elternvereinigung FCPE sieht im Verschieben der Schulöffnung ein notwendiges Signal – und bringt gleich eine weiterführende Idee ins Spiel: einen gesetzlich geregelten Sonderurlaub für Eltern in solchen Ausnahmesituationen.

Eine gestörte Routine – mit Ansage

Natürlich bringt die Verschiebung der rentrée, wie der Schuljahresbeginn in Frankreich genannt wird, für viele Familien logistische Herausforderungen mit sich. Eltern müssen kurzfristig Betreuung organisieren, berufliche Pläne anpassen, vielleicht sogar Reisen umplanen. Doch gleichzeitig offenbart die Situation auch: Die Institution Schule ist mehr als nur ein Lernort. Sie ist ein logistisches Rückgrat des Familienalltags – und jede Veränderung wirkt sich wellenartig auf das gesamte gesellschaftliche Gefüge aus.

Aber war die Entscheidung alternativlos? Hätte man nicht punktuell öffnen können – dort, wo die Wetterlage weniger dramatisch erscheint?

Eine berechtigte Frage. Doch gerade das Unberechenbare an solchen Wetterphänomenen lässt Spielräume schrumpfen. Wenn sich ein Unwetter in wenigen Minuten verstärkt, wenn Wasser plötzlich Straßen überflutet, dann gibt es keinen sicheren Plan B. Dann ist Vorsicht eben kein Zeichen von Schwäche – sondern von Verantwortung.

Frankreichs neue Normalität?

Dass Wetterextreme inzwischen den Schulkalender durcheinanderbringen, ist kein einmaliger Ausrutscher. Bereits in den vergangenen Jahren mussten in Frankreich Schulen immer wieder wegen Hitze, Waldbränden oder Überschwemmungen kurzfristig schließen. Der Klimawandel ist längst kein abstraktes Zukunftsszenario mehr, sondern Realität im Schulalltag. Die rentrée 2025 wird so zum Symbol für eine neue Form der Krisenvorbereitung im Bildungswesen.

Vielleicht ist es also an der Zeit, den Kalender flexibler zu denken. Notfallpläne, alternative Betreuungskonzepte, digitale Übergangslösungen – all das könnte helfen, solche Situationen in Zukunft besser abzufedern. Denn eines ist sicher: Der nächste Extremwetterfall kommt bestimmt.

Und wer weiß – vielleicht erinnert sich ein Kind in zehn Jahren nicht mehr an das Arbeitsblatt zum Einmaleins, das am 1. September 2025 eigentlich auf dem Tisch liegen sollte. Aber sehr wohl daran, dass der erste Schultag ausfiel, weil der Himmel über Marseille seine Schleusen öffnete.

Autor: Daniel Ivers

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