Tag & Nacht

Die Europäische Union steht vor einer sicherheitspolitischen Zäsur. Trotz der wachsenden Spannungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten bleibt Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, entschlossen: Die USA sind und bleiben Verbündete der Europäer. Doch zugleich fordert sie eine Neuausrichtung der europäischen Verteidigungspolitik und eine stärkere Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten.

Diese Haltung ist eine Reaktion auf die jüngsten Entwicklungen in den USA. Donald Trump hat nicht nur wiederholt die Bedeutung der NATO infrage gestellt, sondern auch eine nähere Annäherung an Russland signalisiert, die sowohl in der Ukraine als auch in Europa mit Sorge betrachtet wird. Zudem drohte er mit neuen Zöllen auf europäische Waren, ein Schritt, der das ohnehin angespannte transatlantische Verhältnis weiter belasten könnte. In diesem Kontext wird von der Leyens Forderung nach mehr europäischer Eigenständigkeit zu einer sicherheitspolitischen Notwendigkeit.

Der von ihr präsentierte Plan „Europa wieder bewaffnen“ sieht Investitionen in Höhe von bis zu 800 Milliarden Euro vor. Dieses ambitionierte Programm soll es Europa ermöglichen, seine Verteidigungsindustrie zu stärken und strategische Abhängigkeiten zu reduzieren. Im Fokus stehen dabei die Luft- und Raketenabwehr, moderne Artillerie, Drohnenabwehr sowie die Cybersicherheit. Eine stärkere militärische Eigenständigkeit könnte nicht nur Europas Sicherheit erhöhen, sondern auch die Verhandlungsposition gegenüber den USA stärken.

Doch die Umsetzung dieses Plans birgt Herausforderungen. Die EU-Mitgliedstaaten sind sich uneinig über die Finanzierung. Während Frankreich die Aufnahme gemeinsamer europäischer Schulden zur Finanzierung von Verteidigungsprojekten befürwortet, steht Deutschland diesem Vorschlag skeptisch gegenüber. Andere Länder bevorzugen eine Umwidmung bestehender EU-Mittel oder eine verstärkte Rolle der Europäischen Investitionsbank im Verteidigungsbereich. Diese unterschiedlichen Positionen verdeutlichen, wie schwer es fällt, eine kohärente europäische Verteidigungsstrategie zu etablieren.

Gleichzeitig bleibt die Frage nach der langfristigen strategischen Ausrichtung Europas offen. Die sicherheitspolitische Architektur des Kontinents war jahrzehntelang auf die transatlantische Partnerschaft ausgerichtet. Eine Abkehr von der traditionellen NATO-Orientierung würde nicht nur massive sicherheitspolitische, sondern auch diplomatische Konsequenzen nach sich ziehen. Von der Leyen betont daher, dass Europa nicht gegen die USA handelt, sondern für seine eigene Sicherheit mehr Verantwortung übernehmen muss. Doch die Sorge bleibt bestehen, dass eine verstärkte militärische Eigenständigkeit letztlich zu einer weiteren Entfremdung der transatlantischen Partner führen könnte.

Angesichts der geopolitischen Realitäten steht Europa vor einer klaren Entscheidung. Der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass Sicherheit nicht selbstverständlich ist und verteidigt werden muss. Die Zeiten, in denen Europa sich auf die Schutzmacht USA verlassen konnte, sind womöglich gezählt. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die europäischen Staaten in der Lage sind, ihre Differenzen zu überwinden und den Pfad in Richtung einer eigenständigeren Sicherheitsarchitektur einzuschlagen.

Von Andreas Brucker

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