Tag & Nacht

Frankreich steht einmal mehr vor einer hitzigen Debatte um seine nationale Identität. Premierminister François Bayrou hat das Thema unlängst neu aufgerollt und fordert eine umfassendere Diskussion darüber, was es bedeutet, Franzose zu sein. Anlass ist die jüngste Entscheidung der Nationalversammlung, das Geburtsrecht im Überseedepartement Mayotte einzuschränken. Was zunächst als regional begrenzte Gesetzesinitiative erschien, hat sich binnen weniger Tage zu einer gesamtgesellschaftlichen Debatte ausgeweitet, die tiefe politische und ideologische Gräben sichtbar macht.

Die Frage nach der nationalen Identität

Die Frage nach der Identität ist keine neue in Frankreich. Immer wieder wurde sie in den letzten Jahrzehnten gestellt, mal als Integrationsdebatte, mal als Reaktion auf steigende Migration, mal als politische Waffe im Wahlkampf. Bayrou hat nun einen neuen Ansatz gewählt, indem er die Diskussion nicht allein auf die rechtlichen Rahmenbedingungen der Staatsbürgerschaft beschränkt, sondern sie auf eine grundlegende Reflexion über Rechte und Pflichten ausdehnt.

Der Premierminister fragt, welche Bedeutung das Französischsein hat: Welche Vorteile bietet es? Welche Verpflichtungen bringt es mit sich? Woran glaubt man als Franzose? Diese Fragen sind brisant, weil sie nicht nur juristische, sondern auch kulturelle und emotionale Dimensionen berühren.

Ein strategisches Manöver?

Bayrous Initiative kommt nicht zufällig. Die Debatte um das Geburtsrecht in Mayotte hat die Republikaner beflügelt, die bereits fordern, die Regelung auf das gesamte Land auszudehnen. Die Regierung gerät damit in Zugzwang. Während einige Minister offen sind für eine Reform des Staatsbürgerrechts, warnen andere vor einer Aushöhlung republikanischer Grundwerte.

Vor allem Justizminister Gérald Darmanin hat sich in dieser Frage klar positioniert: „Franzose zu sein, das kann nicht allein vom Zufall der Geburt abhängen.“ Mit dieser Aussage hat er den Ton für eine mögliche Neuausrichtung der Staatsbürgerschaftspolitik gesetzt.

Gleichzeitig steht Bayrou unter Druck von links. Die Unbeugsamen Frankreichs (LFI) und Teile der Sozialisten werfen ihm vor, sich mit der Rechten gemein zu machen und an den Fundamenten der Republik zu rütteln. Die linken Parteien sehen die aktuelle Regierungspolitik als Gefahr für das Geburtsrecht und damit als Bedrohung für das Selbstverständnis Frankreichs als eine offene und integrative Nation.

Ein doppeltes Risiko

Der Premierminister geht mit dieser Debatte ein erhebliches Risiko ein. Zum einen droht er, den linken Flügel der Regierung gegen sich aufzubringen. Zum anderen könnte er Erwartungen auf der rechten Seite wecken, die er am Ende nicht erfüllen kann. Schon einmal ist ein ähnlicher Versuch gescheitert: Als der damalige Einwanderungsminister Éric Besson 2009 eine nationale Identitätsdebatte lostrat, endete das Vorhaben in einem politischen Desaster und wurde schnell wieder eingestampft.

Frankreich befindet sich in einem Balanceakt zwischen Tradition und Moderne, zwischen einem universalistischen Staatsverständnis und den Herausforderungen einer sich wandelnden Bevölkerung. Die aktuelle Diskussion zeigt, dass diese Fragen ungelöst sind und dass jede Regierung, die sie aufgreift, auf ein politisches Minenfeld tritt.

Die große Frage bleibt, ob Bayrou und seine Regierung eine Debatte führen können, die nicht nur Gräben vertieft, sondern auch zu einer neuen Einigkeit in der Gesellschaft beiträgt. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob es tatsächlich um eine ernsthafte Reflexion oder doch nur um parteipolitische Kalküle geht.

P.T.

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