„Schon zu warm“: Wie die Erde ihre Eiskappen verliert.
Die Zahl 1,5°C hat sich tief in unser kollektives Klimabewusstsein eingebrannt. Das Pariser Abkommen, unzählige politische Debatten, Klimastreiks und internationale Appelle – alle kreisen um dieses magische Ziel. Aber was, wenn dieses Ziel nicht ausreicht? Was, wenn 1,5 Grad Erwärmung nicht die Grenze für Sicherheit, sondern bereits Teil des Problems sind?
Genau das legt eine neue wissenschaftliche Auswertung nahe. Und die Ergebnisse lassen aufhorchen – oder eher: sie schreien Alarm.
Risse im Eis – und in unseren Annahmen
Seit den 1990er Jahren hat sich die Geschwindigkeit, mit der Grönland und die Antarktis Eis verlieren, vervierfacht. Heute sind es rund 370 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr. Pro Jahr! Diese Mengen sprengen die Vorstellungskraft – und doch sind sie real.
Ein Temperaturanstieg von 1,2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau ist bereits erreicht. Und genau das scheint zu reichen, um massive Kettenreaktionen auszulösen. Ein Eisverlust, der früher über Jahrtausende hinweg geschah, spielt sich nun innerhalb weniger Jahrzehnte ab.
Wie kann das sein?
Der lange Schatten der Vergangenheit
Ein Blick zurück zeigt: Vor rund 125.000 Jahren, während der letzten Zwischeneiszeit, war es global ähnlich warm wie heute. Und der Meeresspiegel? Lag mehrere Meter höher. Wissenschaftler erkennen heute in den damaligen Entwicklungen deutliche Parallelen zur Gegenwart – ein Déjà-vu mit katastrophalem Ausgang?
Damals dauerte es Jahrtausende, bis sich das Klima abkühlte. Heute beschleunigen menschliche Emissionen die Erwärmung dramatisch. Die Stabilität der Polareisschilde gerät ins Wanken – und niemand kann sagen, ob und ab wann es einen Wendepunkt gibt, ab dem es kein Zurück mehr gibt.
Oder sind wir schon mittendrin?
Das Meer kommt näher
Ein Anstieg des Meeresspiegels um einen oder zwei Meter mag sich harmlos anhören. Doch das Gegenteil ist der Fall. Bereits ein Meter bedeutet das Aus für zahlreiche Küstenregionen. Weltweit leben mehr als 230 Millionen Menschen weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel.
Stellen wir uns Städte wie Jakarta, New York oder Lagos vor – überflutet, entvölkert, verloren. Ganze Inselstaaten? Vom Wasser verschluckt. Und das innerhalb von Jahrhunderten – nicht Jahrtausenden.
Ein paar Jahrhunderte klingen weit weg?
Nicht für Küstenkinder, deren Schulen jedes Jahr neue Flutschutzmauern bauen müssen. Nicht für Menschen, deren Felder salzig werden. Und erst recht nicht für Millionen Menschen, die sich bald ein neues Zuhause suchen müssen.
Gravitation ist kein Freund
Besonders tückisch: Der Meeresspiegel steigt nicht überall gleich. Regionen in Äquatornähe, wie Bangladesch oder viele Pazifikinseln, trifft es besonders hart. Warum? Durch gravitative Effekte verteilt sich das Wasser nicht gleichmäßig – dort, wo große Eismassen schmelzen, sinkt lokal die Schwerkraft, und das Wasser „verlagert“ sich.
Paradox? Vielleicht. Verheerend? Ganz sicher.
1,5 Grad – ein politisches Ziel, kein physikalisches Limit
Die Vorstellung, dass das 1,5-Grad-Ziel alles richtet, war immer ein Kompromiss. Zwischen dem Machbaren und dem Nötigen. Doch inzwischen zeigt sich: Selbst dieses Ziel könnte zu wenig sein.
Die Stabilität der Polareisschilde hängt nicht nur von aktuellen Temperaturen ab, sondern auch von Langzeitprozessen wie Ozeanströmungen, Rückkopplungseffekten und dem thermischen Gedächtnis des Planeten. Selbst wenn die Temperaturen ab morgen konstant blieben – das Schmelzwasser würde weiterfließen.
Und genau das ist die Crux: Klimadynamik ist kein Lichtschalter. Man kann sie nicht einfach an- und ausknipsen.
Wo bleibt die Hoffnung?
Zwischen all den alarmierenden Zahlen und düsteren Aussichten gibt es einen Hoffnungsschimmer – ja, den gibt’s wirklich. Technologischer Fortschritt, bessere Klimamodelle und globaler Druck könnten die Richtung noch ändern. Immer mehr Menschen – vor allem junge – erkennen, wie eng ihr Leben mit dem Zustand des Planeten verwoben ist.
Außerdem rücken auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit stärker in den Fokus: Wer leidet zuerst und am meisten? Wer kann sich anpassen? Und wer hat eigentlich das meiste zum Problem beigetragen?
Die Antwort auf diese Fragen zeigt: Klimaschutz ist nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein menschliches Projekt.
Zeit zum Handeln – wirklich jetzt
Wenn wir also von 1,5 Grad sprechen, sollten wir es nicht als Ziel, sondern als Warnung verstehen. Der Unterschied zwischen 1,5 und 1,2 Grad wirkt vielleicht winzig – doch er ist entscheidend. Jeder Bruchteil zählt. Jedes Zehntelgrad weniger bedeutet Jahrzehnte mehr Zeit für viele Küstenstädte, für Artenvielfalt, für Menschenleben.
Wie oft müssen die Gletscher noch weinen, bevor wir aufwachen?
Und wer hört ihnen zu?
Wir leben in einer Zeit, in der die größte Bedrohung nicht Unwissenheit ist – sondern das Wegsehen. Doch der Kollaps der Polareisschilde wartet nicht auf den nächsten Wahlzyklus oder die nächste Klimakonferenz. Er passiert – jetzt.
Und wir? Wir haben noch eine Wahl.
Von Andreas M. Brucker
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