Wer lesen kann, hat die Schlüssel zur Welt in der Hand. Und doch gibt es in unseren hochentwickelten Gesellschaften Millionen Menschen, die diese Schlüssel nur eingeschränkt nutzen können. Am Weltalphabetisierungstag, dem 8. September, rückt ein Problem in den Fokus, das im Alltag oft unsichtbar bleibt: funktionaler Analphabetismus in Deutschland und Illettrismus in Frankreich.
Deutschland: Wenn Buchstaben Stolperfallen sind
Deutschland, Land der Dichter und Denker, steckt mitten in einer nüchternen Realität: Rund 6,2 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren gelten laut der LEO-Studie 2018 als funktionale Analphabeten. Das sind 12,1 Prozent dieser Altersgruppe – mehr als jede zehnte Person. Funktionaler Analphabetismus bedeutet nicht völlige Unfähigkeit, Buchstaben zu entziffern. Vielmehr können Betroffene zwar Wörter oder kurze Sätze lesen und schreiben, scheitern aber an zusammenhängenden Texten. Ein Behördenschreiben, eine Arbeitsanweisung, manchmal sogar ein Beipackzettel – für viele Menschen wird der Alltag zur Hürde.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt: 58,4 Prozent der Betroffenen sind Männer, 41,6 Prozent Frauen. Überraschend für viele – kanpp die Hälfte hat Deutsch als Muttersprache. Analphabetismus ist also längst kein „Importproblem“, wie es mancher Stammtisch behauptet, sondern tief in der Gesellschaft verankert.
Die Bundesregierung hat deshalb 2016 die „Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung“ gestartet. Ihr Ziel: Menschen erreichen, die bisher durchs Raster gefallen sind, und ihnen Wege zurück in die Schriftkultur öffnen. Ein Mammutprojekt, das noch bis 2026 läuft. Aber wie erreicht man diejenigen, die ihre Schwäche oft aus Scham verbergen? Genau hier liegt die größte Herausforderung.
Frankreich: Wenn Schuljahre nicht reichen
In Frankreich trägt das Problem einen anderen Namen: „Illettrisme“. Der Begriff beschreibt Erwachsene, die zwar die Schule besucht haben, aber dennoch kaum lesen und schreiben können. Laut INSEE-Studie aus dem Jahr 2013 betrifft das rund 11 Prozent der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren. Hinter dieser Zahl steckt ein soziales Drama: Menschen, die im Alltag nicht eigenständig Formulare ausfüllen, digitale Dienste nutzen oder sich schriftlich mitteilen können.
Besonders stark trifft es Menschen, die ihre Schulzeit nicht in Frankreich verbracht haben. In der Region Île-de-France, rund um Paris, gilt das für zwei Drittel der Betroffenen. Migration, Sprachbarrieren, prekäre Lebensumstände – all das verschränkt sich mit Bildungsdefiziten zu einem unsichtbaren Teufelskreis.
Die französische Regierung setzt seit Jahren auf spezielle Einrichtungen. Das Centre de Ressources Illettrisme et Analphabétisme (CRIA) bietet individuelle Unterstützung, Universités Populaires eröffnen Erwachsenen neue Lernwege. Hier geht es nicht nur um Buchstaben, sondern um Selbstbewusstsein und Teilhabe. Denn wer schreiben kann, findet auch leichter den Weg in die Gesellschaft.
Parallelen und Unterschiede
Deutschland und Frankreich stehen vor demselben Dilemma: Wie erreicht man Menschen, die sich ihrer Schwäche schämen und sie im Alltag oft geschickt überspielen? Ein Restaurantbesuch, bei dem jemand lieber „das Gleiche“ bestellt, statt die Speisekarte zu entziffern, ist nur ein Beispiel. Man kann Texte meiden – aber man entkommt ihnen nicht.
Und doch unterscheiden sich die Strategien. Während Deutschland mit einer breit angelegten Alphabetisierungsdekade eher politisch-institutionell denkt, setzt Frankreich stärker auf regionale Initiativen und Bildungszentren. Zwei Wege, ein Ziel: den Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Alphabetisierung als Menschenrecht
Alphabetisierung ist mehr als nur eine Technik. Sie ist ein Menschenrecht. Sie entscheidet darüber, ob jemand Arbeitsverträge versteht, Nachrichten kritisch einordnen oder seinen Kindern vorlesen kann. Sie ist Schlüssel zu Teilhabe, Demokratie und Selbstvertrauen. Und genau deshalb erinnert der Weltalphabetisierungstag daran, dass Buchstaben nicht nur Zeichen auf Papier sind, sondern Türen in die Welt.
Die nüchternen Zahlen mögen erschrecken. Aber hinter jeder Zahl steht eine Lebensgeschichte. Ein Mann, der nach Jahrzehnten im Job plötzlich merkt, dass er die Bedienungsanleitung für die neue Maschine nicht versteht. Eine Frau, die ihrem Kind beim Lesenlernen nicht helfen kann. Ein junger Erwachsener, der trotz Schulbesuch beim Bewerbungsschreiben scheitert. Alphabetisierung ist nicht nur Bildungspolitik – es ist ein zutiefst menschliches Thema.
Ein Blick nach vorn
Deutschland und Frankreich haben den Kampf gegen Analphabetismus aufgenommen. Aber der Weg ist noch weit. Er führt über mehr Sprachförderung in Schulen, niederschwellige Angebote für Erwachsene, aber auch über gesellschaftliche Sensibilität. Denn niemand sollte sich schämen müssen, Hilfe beim Lesen und Schreiben anzunehmen.
Am Ende bleibt eine Frage: Wie viele Chancen, wie viele Talente und wie viele Lebensgeschichten gehen verloren, wenn Buchstaben zu Barrieren werden? Die Antwort kennt jeder, der einmal erlebt hat, wie das erste selbstgelesene Buch ein Gesicht zum Leuchten bringt.
Autor: C.H.
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