Tag & Nacht


Ein Naturwunder kehrt zurück. Still und gleichzeitig mit großer Geste. Wie ein Schauspieler, der die Bühne betritt, erhebt sich der Mont Saint-Michel im Licht der Morgensonne – und ist plötzlich wieder eine Insel.

Es ist ein Spektakel, das sich nur siebenmal im Jahr ereignet. Doch wenn es geschieht, hält die Normandie den Atem an. Dann trifft der Atlantik mit solcher Wucht auf die Bucht, dass er das Land verschlingt und den weltberühmten Klosterberg komplett vom Festland trennt. Die großen Gezeiten – les grandes marées – sind da.

Ein Rennen gegen das Wasser

Am 5. November war es wieder so weit. Und wer den Mont Saint-Michel bei Höchststand der Flut erleben wollte, braucht gute Schuhe, eine warme Jacke – und Timing. Denn das Wasser kommt schnell. Sehr schnell.

„Ich habe nur 20 Minuten, dann muss ich wieder zurück. Das ist sportlich!“, ruft Florian Wolferseder, ein junger Tourist, während er mit Kamera und Rucksack den Damm entlang hastet. Die Szenerie ist atemberaubend – das Wasser steigt, umfließt die Wege, verwandelt die Straßen in Stege, die Luft riecht nach Salz und Tang.

Und dann – ist es vorbei. So schnell wie das Meer kam, zieht es sich auch wieder zurück. Doch was bleibt, ist der Eindruck. „Mystisch“, sagt Paul Ayton. „Magisch sogar. Dieser Ort ist einfach einzigartig.“

Ein Magnet für Schaulustige – und Muschelsucher

Jedes Mal, wenn die großen Gezeiten kommen, zieht es Tausende an den Fuß des Felsen. Frühaufsteher, Fotografen, Naturliebhaber – sie alle wollen einen Blick auf dieses Wunder erhaschen. Aber auch andere Besucher tauchen in der Bucht auf: die Muschelsucher.

Mit Eimern, Gummistiefeln und einem wachen Blick durchkämmen sie den freigelegten Meeresboden auf der Suche nach Schätzen. Coques – Herzmuscheln – sind das Ziel. Doch der Fang ist oft Nebensache.

„Es geht nicht nur um die Muscheln“, meint Eric Cuillerdier, ein passionierter pêcheur à pied, also ein Wattfischer. „Die Lichtstimmungen hier, die Landschaften – jeden Tag ist alles anders. Das ist einfach magisch.“

Ein Ort, der Geschichten erzählt

Der Mont Saint-Michel ist nicht nur ein geografisches Phänomen, sondern ein geschichtsträchtiger Ort. Seit Jahrhunderten zieht er Pilger an – heute sind es Touristen. Doch das Gefühl ist dasselbe geblieben: Ehrfurcht.

Wenn die Sonne tief steht und der Schatten des Klosters über die Bucht fällt, wirkt der Mont fast wie eine Filmkulisse. Aber nichts daran ist künstlich. Alles ist echt. Wind, Wasser, Stein – und diese ganz besondere Stimmung, die einen für einen Moment glauben lässt, dass die Welt ein bisschen stiller geworden ist.

Nur zwei Tage – dann ist der Zauber vorbei

Am Abend des 5. November stieg das Wasser. Wieder wurde der Mont Saint-Michel zur Insel. Und wieder drängten sich die Zuschauer am Rand der Bucht, um diesen Moment festzuhalten.

Doch diesmal ist etwas anders. Es war die letzte große Flut des Jahres. Danach wird der Klosterberg wieder monatelang auf dem Trockenen liegen – verbunden mit dem Festland, erreichbar zu jeder Tageszeit.

Wer den Zauber erleben will, muss also auf den Kalender achten und geduldig warten. Auf das nächste Mal. Wenn das Meer zurückkehrt und die Grenzen zwischen Land und Wasser verschwimmen.

Autor: Andreas M. B.

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