Tag & Nacht


Der Morgen danach fühlt sich seltsam an.
Zu ruhig.
Fast so, als halte die kleine Stadt den Atem an.

In Sommières liegt der Duft von feuchtem Stein in der Luft, gemischt mit Reinigungsmittel und dieser undefinierbaren Note, die nur Hochwasser hinterlässt. Wer hier lebt, kennt das Geräusch des Vidourle. Sein Murmeln, sein Rauschen, manchmal sein Grollen. Doch diesmal kam er schneller, höher, kompromissloser.

Und es nahm sich, was ihm im Weg stand.

Ein Fluss mit Gedächtnis

Der Vidourle gilt als launisch. Ein Fluss, der lange schläft und dann plötzlich explodiert. Die Alten erzählen von früher, von Wasserständen, die Türen aufdrückten, von Nächten ohne Strom und Kerzen auf Fensterbänken. Geschichten, die nach Anekdoten klingen. Bis sie Realität werden.



Innerhalb weniger Stunden stieg am 24. Dezember 2025 der Pegel auf über vier Meter.
Vier Meter — das ist kein Zahlenspiel. Das bedeutet Strassen und Häuser unter Wasser, Kühlschränke unbrauchbar, Erinnerungen zerstört.

Wer hier an diesem Dezembermorgen durch die Altstadt läuft, hört kaum Stimmen. Stattdessen Schaufeln. Pumpen. Das Kratzen von Besen über Pflastersteine. Und zwischendurch ein resigniertes Lachen, so eines, das sagt: Was willst du machen?

Der Abend vor dem Fest

Weihnachten stand vor der Tür. Normalerweise klirren Gläser, Tische rücken enger zusammen, Reservierungen stapeln sich in den Restaurants. In diesem Jahr liegen statt Servietten Müllsäcke bereit.

Grégory Enimie, Restaurantbesitzer, steht in Gummistiefeln zwischen offenen Kühlschränken. Blauschimmelkäse, Ziegenkäse, Fleisch, Jakobsmuscheln, Trüffel — alles landet im Müllcontainer. Ein wirtschaftlicher Totalschaden von rund 30.000 Euro.
Er schaut kurz hoch, zuckt mit den Schultern.

„Das vergisst man nicht“, sagt er.
Und meint damit nicht nur den finanziellen Schlag.

Seit zwei Jahren erst betreibt er sein Lokal hier. Hochwasser? Gehört. Gesehen? Nein. Jetzt schon. Ein unfreiwilliger Taufakt. Einer, den man niemandem wünscht.

Ein Meter Wasser im Gastraum. Die Küche zerstört. Die Steckdosen tot. Der Geruch von Schlamm hängt in jeder Ecke. Und trotzdem: kein Pathos. Nur dieser nüchterne Blick nach vorn.

Oder besser gesagt — der Versuch.

Nebenan das gleiche Bild

Ein paar Straßen weiter das Restaurant La Cabane.
Leslie Guirao steht in einem Raum voller Edelstahl, der stumpf wirkt, matt, leblos. Öfen, Kühlhäuser, Regale — alles hat Wasser gezogen. Nichts lässt sich einschalten. Nichts testen. Erst trocknen. Dann hoffen.

Sie hatte für die Feiertage geöffnet.
Geplant. Eingekauft. Vorbereitet.

Jetzt? Stillstand.

„Wir warten, bis alles trocken ist“, sagt sie.
Ein Satz, der harmlos klingt und doch so viel Unsicherheit trägt.

Was, wenn nichts mehr funktioniert?
Was, wenn Versicherungen zögern?
Was, wenn die Hilfe zu spät kommt?

Fragen, die im Raum stehen wie feuchte Wände.

Die Stadt im Ausnahmezustand

Sommières steht nicht allein. Auch Teile des Gard und des Hérault melden massive Schäden. Straßen unterspült, Keller geflutet, Felder durchnässt. Die große Welle rollt durch die Region und trifft vor allem jene, die ohnehin knapp kalkulieren.

Die Kommune reagiert.
Eine Anfrage auf Anerkennung des état de catastrophe naturelle geht raus. Bürokratie klingt trocken, doch dahinter steckt Hoffnung. Anerkennung bedeutet Unterstützung. Erleichterungen. Versicherungszahlungen ohne endlose Diskussionen.

Für viele entscheidet dieses Dokument darüber, ob sie weitermachen oder aufgeben.

Und seien wir ehrlich — wer hätte kurz nach Weihnachten die Kraft, alles von vorne aufzubauen?

Wenn das Wasser geht, bleibt die Arbeit

Die Pegel sinken. Die Kameras verschwinden. Die Schlagzeilen wandern weiter. Zurück bleibt Alltag. Schwerer, langsamer, dreckiger Alltag.

Man schrubbt Böden.
Man trocknet Mauern.
Man zählt Verluste.

Ein älterer Herr vor seinem Haus winkt müde ab: „Der Vidourle nimmt, der Vidourle gibt.“
Ein Spruch wie aus einem alten Film. Aber diesmal gibt er wenig zurück.

Trotzdem: Niemand spricht von Wegziehen. Sommières ist Heimat. Wer hier bleibt, weiß um das Risiko. Und akzeptiert es irgendwie. Vielleicht aus Liebe. Vielleicht aus Sturheit.

Oder aus beidem.

Zwischen Fatalismus und Solidarität

Es gibt Momente, da hilft kein Versicherungsgutachten, kein Formular, kein Antrag. Da hilft nur Nachbarschaft. Und genau die zeigt sich jetzt. Freiwillige kommen mit Pumpen. Freunde bringen Kaffee. Unbekannte helfen beim Schleppen.

Einer ruft: „Braucht ihr noch Eimer?“
Eine kleine Geste, große Wirkung.

Man redet mehr als sonst. Tauscht Erfahrungen aus. Lacht an Stellen, wo Lachen eigentlich fehl am Platz scheint. Aber genau das hält aufrecht.

Ist das vielleicht das Paradoxe an solchen Katastrophen — dass sie zerstören und gleichzeitig verbinden?

Ein Fluss als Spiegel der Zeit

Der Vidourle erinnert daran, wie verletzlich selbst jahrhundertealte Städte sind. Mauern, die Kriege überstanden, knicken vor Wasser ein. Technik versagt. Pläne zerfließen.

Klimatische Veränderungen?
Darüber spricht man leiser, fast vorsichtig.

Doch in vielen Gesprächen schwingt mit: So hoch war es früher selten.
So schnell kam es auch nicht.

Niemand will Panik verbreiten. Aber niemand ignoriert die Zeichen.

Weihnachten ohne Glanz

Die Lichterketten hängen trotzdem. Vielleicht aus Trotz. Vielleicht aus Hoffnung. Vielleicht, weil man sich nicht alles nehmen lassen will.

In einigen Restaurants bleibt es dunkel. Andere improvisieren. Eine Suppe auf dem Gaskocher. Ein Glas Wein im Stehen. Improvisation als Überlebensstrategie.

Und irgendwo zwischen Schlamm und Lichterglanz stellt sich diese leise Frage:
Wie oft lässt sich neu anfangen, ohne müde zu werden?

Die leisen Helden

Es sind keine großen Reden, die hier zählen. Sondern Hände, die anpacken. Schultern, die tragen. Menschen, die bleiben.

Ein Feuerwehrmann, seit drei Nächten im Einsatz.
Eine Bäckerin, die Brot verschenkt.
Ein Schüler, der nach der Schule beim Ausräumen hilft.

Keine Kameras. Kein Applaus. Nur Alltag im Ausnahmezustand.

Hoffnung zwischen den Pflastersteinen

Sommières hat schon viel gesehen. Römer. Händler. Hochwasser. Und immer wieder Neuanfänge. Die Stadt steht noch. Angeschlagen, ja. Aber nicht gebrochen.

Die Anerkennung als Naturkatastrophe hilft. Doch sie heilt nicht alles. Was heilt, ist Zeit. Geduld. Und dieser eigentümliche südfranzösische Trotz, der sagt: On continue.

Man macht weiter.

Langsam.
Mit Pausen.
Mit Humor — manchmal ziemlich schwarzem.

Und während der Vidourle wieder ruhiger durch sein Bett fließt, bleibt eine stille Bitte in der Luft: Beim nächsten Mal etwas gnädiger zu sein.

Ob der Fluss zuhört?

Ein Artikel von M. Legrand

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!