Tag & Nacht




Es war ein Moment, den man sich in einem Alpenidyll kaum vorstellen mag – und doch wurde er Realität.

Am 28. Mai 2025 begrub eine massive Eis- und Gerölllawine große Teile des Walliser Dorfs Blatten im Lötschental unter sich. Vorausgegangen war ein gewaltiger Gletscher- und Felssturz vom Kleinen Nesthorn, ausgelöst durch das Abrutschen von rund neun Millionen Tonnen Gestein. Wie ein Schwall aus Urgewalt stürzte die Masse ins Tal, verschlang Häuser, Straßen und Erinnerungen. Und hinterließ – ein bedrückendes Echo aus Fassungslosigkeit und Wut.

Alarmzeichen überhört?

Schon Mitte Mai war klar: Da braut sich was zusammen. Erste Risse im Fels, kleinere Abbrüche, ungewöhnliche Bewegungen am Gletscher – wer genau hinsah, hätte die Zeichen lesen können. Doch das Tückische an der Natur ist ihre Unberechenbarkeit. Wann genau die Katastrophe losbricht, weiß man nie. Trotz modernster Technik bleibt der Berg eben manchmal einfach… der Berg.

Zum Glück hatte man rechtzeitig gehandelt. Die rund 300 Bewohner von Blatten wurden gut eine Woche vor dem Ereignis evakuiert. Ohne diese Maßnahme hätte der Gletschersturz vermutlich ein Vielfaches an Menschenleben gekostet.


Was steckt dahinter?

Der Ursprung liegt nicht allein in der Geologie, obwohl die Region rund um das Kleine Nesthorn ohnehin als instabil gilt. Viel beunruhigender ist der Zusammenhang mit dem Klimawandel. Die anhaltende Erwärmung destabilisiert die Hochgebirgsregionen auf eine Weise, die wir noch gar nicht vollständig begreifen.

Permafrost – der natürliche „Kleber“ vieler Hochgebirgsmassive – taut. Und wenn dieser Eisleim verschwindet, rutscht das Gebirge. Kombiniert mit Starkregen, instabilem Gelände und schmelzendem Gletscher ergibt das eine tickende Zeitbombe. Klingt dramatisch? Ist es auch.

Brienz, Blatten – wer ist der Nächste?

Manch einer fühlt sich erinnert an Brienz im Kanton Graubünden. Auch dort bewegt sich ein Hang bedrohlich – allerdings langsam und vorhersehbar. In Blatten ging alles rasend schnell. Innerhalb weniger Tage wuchs aus einer latent bedrohlichen Situation ein katastrophales Ereignis.

Was ist schlimmer: Das schleichende Unheil oder der plötzliche Knall?

Die Frage stellt sich nicht nur für Betroffene, sondern auch für Behörden, Wissenschaftler und Planer. Denn wer heute in den Alpen lebt, lebt zunehmend in einer Risikoregion.


Der Wiederaufbau – ein Dorf sucht Halt

Jetzt, nach dem Inferno, beginnt die Phase des Wiederaufbaus. Doch wohin? Kann man ein Dorf an seinem Ursprungsort überhaupt wieder aufbauen, wenn die Erde unter den Füßen nicht mehr sicher ist?

Viele der Evakuierten stehen vor dem Nichts. Häuser zerstört, Höfe verschüttet, Existenzen weg – wie weiter? Hoffnung geben die enorme Solidarität in der Schweiz, aber auch das Versprechen, dass solche Tragödien künftig besser verhindert werden sollen.


Was muss sich ändern?

Hier geht es um mehr als nur technische Lösungen. Natürlich braucht es Frühwarnsysteme, Sensoren, Messdaten. Aber vor allem braucht es einen Mentalitätswandel. Wer weiterhin glaubt, die Alpen seien ein unerschütterlicher Zufluchtsort, der irrt gewaltig.

Raumplanung muss mutiger werden. Risikoanalysen gehören nicht in die Schublade, sondern auf den Tisch. Und vor allem: Der Klimawandel ist kein abstraktes Phänomen. Er ist konkret, messbar – und er bedroht längst unsere Lebensgrundlagen.


Wissenschaft vernetzen – Perspektiven verbinden

Ein weiteres großes Learning: Ohne interdisziplinäre Forschung kommen wir nicht weiter. Geologie, Meteorologie, Klimawissenschaft, Sozialforschung – nur gemeinsam lässt sich dieses Puzzle entschlüsseln. Denn am Ende geht es nicht nur darum, zu verstehen, was passiert ist. Sondern warum – und wie man darauf reagiert.


Was bleibt?

Vielleicht ist die eigentliche Katastrophe nicht der Gletschersturz selbst, sondern die Tatsache, dass solche Ereignisse künftig häufiger auftreten werden.

Wie viele Täler, wie viele Dörfer, wie viele Leben riskieren wir noch, bevor wir Konsequenzen ziehen?

Blatten steht heute für mehr als einen zerstörten Ort – es steht für eine Zeitenwende. Für das Wissen, dass selbst jahrtausendealte Landschaften zerbrechlich sind. Und dass es manchmal Mut braucht, nicht nur einen Ort, sondern auch eine Denkweise hinter sich zu lassen.

Von Andreas M. Brucker

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