Tag & Nacht




Die Morgendämmerung über Wimereux beginnt leise. Die See liegt flach, der Himmel ist wolkenlos, und irgendwo über Dünen und Disteln kreist ein Aufklärungsflugzeug. Es ist der perfekte Moment für eine Flucht – und genau deshalb auch der gefährlichste.

Denn die französische Polizei ist bereit. Ihre blauen Einsatzfahrzeuge pendeln zwischen Küstenstraße und Sandpfaden. Ihr Ziel: Geflüchtete aufhalten, bevor sie es auf einem der provisorischen Schlauchboote über den Ärmelkanal schaffen. Doch während die staatlichen Kräfte abwehren, gibt es andere, die auffangen wollen.

Ein Bürgerkollektiv, gegründet von Anwohner:innen der kleinen Küstenstadt Wimereux, steht mit Thermoskannen, Snacks und offenen Armen bereit.

„Wir geben ihnen nur einen Moment Ruhe“

Eric, Ferri und Sandrine gehören zu „Alors on aide“. Die drei Freiwilligen, alle aus der Region, wissen genau, wo sich die Geflüchteten nach gescheiterten Überfahrten sammeln – zum Beispiel am Bahnhof. „Nachts stranden hier regelmäßig Gruppen, erschöpft, durchnässt, manchmal sogar mit Tränengasresten auf der Kleidung“, erzählt Eric, ein pensionierter Anwohner.

Was einst mit ein paar Flaschen Wasser begann, ist heute ein Netzwerk: rund 60 Engagierte verteilen Kleidung, waschen Wäsche, reinigen Camps und vermitteln Notunterkünfte bei Privatleuten – meist für maximal drei Nächte. Denn: „Was wir bieten, ist kein Zuhause. Es ist ein kurzer Moment des Durchatmens“, sagt Ferri, die ursprünglich aus den Niederlanden stammt.

Eine Stadt wird zum Brennpunkt

Seitdem sich die sogenannte „Krise von Calais“ weiter entlang der Küste verlagert hat, ist auch Wimereux zum Schauplatz geworden. Der Druck ist spürbar – auf beiden Seiten.

„Niemand will sie. Überall werden sie vertrieben. Dabei brauchen sie Schutz“, sagt Ferri leise, während sie einem jungen Afghanen Kaffee nachschenkt. Um sie herum: zehn junge Männer, viele aus dem Sudan. Sie sprechen Englisch, manche mit Schulkenntnissen, andere in gebrochenen Sätzen. Ihre Geschichten ähneln sich: Flucht vor Krieg, vor Armut, vor Hoffnungslosigkeit.

„Wir haben letzte Nacht versucht zu starten, aber kaum war das Boot entrollt, war die Polizei schon da – mit Taschenlampen und Tränengas“, erzählt Yassir, kaum zwanzig Jahre alt. Ihre Sachen mussten sie auf Anweisung der Schlepper zurücklassen. Am Ende war alles umsonst.

„Eine widerliche Ökonomie!“

Die Helfenden sind wütend. Nicht auf die Geflüchteten – sondern auf das System. „Diese Leute haben alles verloren. Und dann werden sie auch noch ausgepresst von Kriminellen, die Boote verkaufen, als wären es Fahrkarten ins Glück“, schimpft Ferri. Die Betroffenen nicken nur. Der Zorn ist längst Müdigkeit gewichen.

Und während Frankreichs Behörden mit jedem Sommer mehr Polizeikräfte an den Küsten konzentrieren, flammen auch die Konflikte zwischen den Geflüchtetengruppen auf. „Manchmal sind es 200 Menschen auf einmal. Am Abend kann es dann schon mal zu Rangeleien kommen. Die Nerven liegen blank“, sagt Eric.

Ein Drahtseilakt zwischen Empathie und Gesetz

„Unsere Stärke ist: Wir sind keine Organisation, keine NGO. Wir sind Nachbarn“, erklärt Sandrine. Das verschafft dem Kollektiv Gehör bei den Behörden – und Respekt bei der Polizei. Sie selbst betreten nie die Dünen, um die Geflüchteten nicht zu verraten. „Wir sind keine Ermittler.“

Doch während die Regierung unter Innenminister Bruno Retailleau nun darüber nachdenkt, auch in flachem Wasser mit Zwangsmaßnahmen gegen Migrant:innen vorzugehen, wächst die Sorge bei den Freiwilligen.

„Wenn man anfängt, Boote in Küstennähe mit Gewalt zu stoppen, eskaliert das. Dann reden wir nicht mehr von Kontrolle, sondern von Gefahr für Leib und Leben“, warnt Ferri.

„Calais ist eine Stadt im Ausnahmezustand“

Die Mahnung ist nicht neu. Doch jetzt, da allein in der ersten Jahreshälfte 2025 über 17.000 Menschen die britische Küste auf kleinen Booten erreicht haben, ist der politische Druck immens.

London hat erneut 180 Millionen Euro an Paris überwiesen – zur Finanzierung schärferer Grenzschutzmaßnahmen. Doch viele, wie Ferri, sehen darin eine moralische Bankrotterklärung: „Dieses Geld dient nicht dem Schutz. Es zementiert eine Abschottungspolitik, die Leben kostet.“

Im vergangenen Jahr starben 78 Menschen bei der Überfahrt. 2025 sind es bisher 17 – zuzüglich Dunkelziffer.

Und dennoch: Die Hoffnung lebt

Die weißen Klippen Englands sind von den Hügeln Wimereuxs aus zu sehen. „Ein paar Stunden, mehr braucht es nicht – und mein neues Leben beginnt“, meint Yassir. Dass täglich rund 600 Frachtschiffe durch den Ärmelkanal ziehen, weiß er nicht.

Ob er es schaffen wird? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Doch in der Zwischenzeit wird er wieder durchatmen – mit einem Becher Kaffee in der Hand, einem Lächeln von Ferri und einem Schlafplatz im Rücken.

Denn wenn der Sommer heiß wird, braucht es genau diese kleinen Oasen der Menschlichkeit.

Autor: Andreas M. Brucker

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