Ein sonniger Julitag, Touristen strömen durch die malerischen Gassen von Annecy, drängen sich an den Geländern des berühmten „Pont des Amours“, blicken verträumt aufs Wasser, Smartphones gezückt. Doch diesmal bot sich ihnen ein ungewohntes Bild.
Am 6. Juli 2025 standen dort etwa fünfzig Einwohner, Banner in den Händen, Gesichter ernst, Stimmung angespannt. Sie tauften den „Pont des Amours“ kurzerhand um – in „Pont du Désamour“. Ein Brückenschlag der besonderen Art.
Ein symbolischer Akt mit klarer Botschaft
Organisiert wurde diese Aktion von der Association des Résidents de la Vieille Ville d’Annecy (ARVVA) und dem Kollektiv La Colère des Glaisins. Ihr Ziel: Aufrütteln, zeigen, dass hinter der romantischen Fassade der Altstadt längst Frust und Verzweiflung gären.
Denn der Massentourismus hat seine Schattenseiten – Lärm, überquellende Mülltonnen, verstopfte Straßen, überfüllte Seeufer und explodierende Mietpreise. Ein Alltag, der für die Bewohner immer schwerer zu ertragen ist.
„Wir können uns kaum noch frei bewegen“, klagt eine ältere Dame. „Meine Enkel haben keinen Platz zum Spielen. Wir fühlen uns wie Statisten in einem Freizeitpark.“
Pont des Amours oder Brücke der Enttäuschung?
Der gewählte Ort für den Protest war kein Zufall. Der Pont des Amours, dieses Postkartenmotiv schlechthin, steht für alles, was Touristen an Annecy lieben – und was den Einwohnern zunehmend den Atem raubt.
Indem sie ihn in „Pont du Désamour“ umbenannten, hielten die Demonstranten ihrer Stadt einen Spiegel vor. Denn Liebe, so scheint es, ist keine Einbahnstraße. Wer täglich mit den Folgen des Übertourismus lebt, verliert irgendwann sein Herz an einen anderen Ort.
Forderungen, die aufhorchen lassen
Die Liste der Anliegen ist klar formuliert:
- Striktere Regulierung des Tourismus
Weniger Mega-Events, die noch mehr Menschen anziehen. - Kontrolle von Kurzzeitvermietungen
Plattformen wie Airbnb sollen begrenzt werden, um Wohnraum für Einheimische zu sichern. - Schutz der öffentlichen Räume
Die Bewohner wollen ihren See, ihre Promenaden und Plätze zurück – zumindest teilweise.
Doch kann man den Strom der Besucher einfach so eindämmen?
Eine europäische Debatte
Annecy ist kein Einzelfall. Von Venedig bis Dubrovnik stehen viele europäische Städte vor demselben Dilemma: Tourismus als Segen und Fluch zugleich.
Einerseits fließt Geld in Gastronomie, Hotellerie und Stadtkassen. Andererseits erodiert die Lebensqualität der Menschen, die diese Orte einst zu dem machten, was sie heute sind.
Wie sagte ein Aktivist am Rande der Demonstration so treffend:
„Wir verkaufen unsere Seele – Zimmer für Zimmer, Straße für Straße, Blick für Blick.“
Zwischen wirtschaftlicher Realität und Lebensqualität
Annecy gilt als „Venise des Alpes“. Millionen Touristen kommen jedes Jahr wegen des türkisblauen Sees, der historischen Altstadt und der Alpenkulisse. Ein perfekter Mix, der Reiseblogs, Instagram-Feeds und Kassen klingeln lässt.
Doch was bringt eine florierende Wirtschaft, wenn die Bevölkerung sich entfremdet fühlt?
Wenn alteingesessene Familien wegziehen, weil sie keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden?
Wenn das tägliche Leben zum Hindernislauf zwischen Reisegruppen wird?
Ein Appell für ein neues Miteinander
Die Demonstration am 6. Juli ist mehr als nur ein lokaler Protest. Sie ist ein Aufschrei vieler europäischer Städte, die spüren, dass Wachstum nicht unendlich ist.
Es braucht einen Dialog zwischen Stadtverwaltung, Tourismusbranche und Bürgern – ohne Beschönigungen, ohne PR-Floskeln. Nur so lässt sich ein Weg finden, der Annecy sowohl den Touristen als auch den Einheimischen erhält.
Was nützt ein „Pont des Amours“, wenn niemand mehr dort lebt, der ihn liebt?
Ein Weckruf, der nachhallt
Mit ihrer symbolischen Umbenennung haben die Menschen von Annecy ein starkes Zeichen gesetzt. Kein Hass gegen Touristen, sondern eine stille Bitte: Seht uns. Hört uns. Nehmt Rücksicht.
Vielleicht ist das der erste Schritt hin zu einem neuen Modell – einem, das Liebe nicht nur als Selfiehintergrund versteht, sondern als respektvolles Miteinander von Gästen und Bewohnern.
Autor: Andreas M. Brucker
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