Tag & Nacht




Ein grauer Morgen, Nebel liegt über dem Wasser, und die Horizontlinie ist nicht mehr dieselbe wie früher. Riesige Rotorblätter zeichnen sich ab, wie futuristische Wächter, die sich langsam drehen. Zwischen Fécamp und Ouistreham hat die Normandie begonnen, ihre Küste neu zu schreiben – als Kapitel der Energiewende.


Fécamp: Erste Realität auf hoher See

Der Offshore-Windpark von Fécamp ist längst kein Traum mehr, sondern Wirklichkeit. 71 Windräder, 500 Megawatt Gesamtleistung, verteilt zwischen 13 und 21 Kilometern vor der Küste. Schritt für Schritt seit 2023 ans Netz gebracht, wurde er im Mai 2024 vollständig in Betrieb genommen. Seine Kapazität: genug, um den Jahresstrombedarf von rund 770.000 Menschen zu decken – fast zwei Drittel der Bevölkerung des Départements Seine-Maritime.

Was einst ein abstraktes Projekt war, ist nun ein sichtbares Symbol für eine neue maritime Identität. Fécamp gilt als Türöffner für die Normandie – und als Testfall für die gesellschaftliche Akzeptanz dieser gigantischen Bauten auf See.


Ouistreham: das nächste Mammutprojekt

Doch die Reise endet nicht dort. Mit „Centre Manche 2“ steht das nächste Großvorhaben bereits in den Startlöchern. Ende September 2025 hat der französische Staat den Zuschlag an ein Konsortium aus TotalEnergies und RWE vergeben.

Die Dimensionen sind gewaltig: 1,5 Gigawatt Leistung – also die Größenordnung eines modernen Atomreaktors. Geplant ist ein Standort mehr als 40 Kilometer vor der Küste des Calvados, sodass die Anlagen vom Strand aus kaum sichtbar sein werden. Start der Stromproduktion: voraussichtlich um 2033. Versorgt werden sollen damit rund eine Million Haushalte.

TotalEnergies spricht selbstbewusst vom „größten jemals realisierten Projekt im Bereich erneuerbarer Energien in Frankreich“.


Zwischen Begeisterung und Bedenken

Ein Streitpunkt: der Blick aufs Meer

Die Normandie lebt vom Meer – landschaftlich, kulturell, touristisch. Mit den neuen Windparks ändert sich der Horizont. Für die Bewohner von Étretat oder Yport bedeutet das: Der ungestörte Blick auf die Felsen und die offene See wird neu interpretiert.

Um Konflikte zu entschärfen, wurde die Anordnung der Windräder bei Fécamp verändert. Nicht die maximale Energieausbeute stand im Vordergrund, sondern die Rücksicht auf Küstenbewohner, Fischer und Denkmalschützer. Ein Landschaftsplan für die berühmte Alabasterküste begleitet diese Entwicklung – eine Art Kompromiss zwischen Energieproduktion und touristischer Attraktivität.

Natur und Nutzung – ein heikles Gleichgewicht

Die See ist ein Lebensraum, kein leeres Blatt Papier. Fischerei, Vogelzüge, wandernde Meeressäuger und maritime Transportwege stehen potenziell im Konflikt mit den neuen Stahlkolossen.

Die Betreiber verweisen darauf, dass die Windturbinen mit den Strömungen ausgerichtet seien, um die Netze der Fischer nicht zu blockieren. Außerdem werden Umwelt-Monitorings während des Betriebs versprochen – doch ob sie reichen, bleibt abzuwarten. Denn eines ist klar: Das Meer vergisst nichts, und Eingriffe haben oft unvorhersehbare Folgen.

Industrie am Kai – neue Jobs, neue Chancen

Ein Projekt dieser Größenordnung ist auch ein industrielles Abenteuer. Häfen wie Le Havre und Cherbourg sind längst mehr als Fischer- und Fährterminals – sie werden zu Montageplätzen für Fundamente, Turbinen und Kabel.

Für die Wartung entstehen gleich drei Stützpunkte: in Fécamp, Dieppe und Ouistreham. Jeder Standort bringt rund 75 dauerhafte Arbeitsplätze. Das mag nach wenig klingen, ist für die betroffenen Kleinstädte jedoch ein echter Strukturimpuls. Junge Fachkräfte, die bisher in Paris oder Rennes nach Jobs suchten, könnten künftig an der Küste bleiben.

Gesetzliche Hürden und Investoren-Skepsis

Allerdings: Der Ausbau ist kein Selbstläufer. Genehmigungsverfahren ziehen sich über Jahre, Einsprüche bremsen, steigende Baukosten drücken die Rendite. TotalEnergies warnte bereits, dass Frankreich im internationalen Vergleich an Attraktivität verliere.

RWE denkt sogar laut über einen Ausstieg aus dem Projekt „Centre Manche 2“ nach. Das könnte das gesamte Vorhaben auf die Probe stellen – und zeigt, dass zwischen politischem Willen und wirtschaftlicher Realität oft ein tiefer Graben liegt.


2035: eine neue Landkarte auf dem Meer

Wer heute am Strand von Deauville steht, sieht noch vor allem Möwen und Segelboote. In zehn Jahren aber könnte der Ärmelkanal zwischen Fécamp und Ouistreham aussehen wie eine riesige Energiestraße. Windparks reihen sich entlang der Küste, verbunden durch Kabel und Wartungsschiffe.

Die Vision: eine „stille Autobahn der Energie“. Kein Lärm, keine Abgase – nur das gleichmäßige Drehen der Rotorblätter.

Doch wie jede Utopie hat auch diese eine Bedingung: Vertrauen. Vertrauen der Küstenbewohner, dass ihre Landschaft nicht zerstört, sondern weiterentwickelt wird. Vertrauen der Investoren, dass Frankreich Planungssicherheit bietet. Vertrauen der Gesellschaft, dass die Energiewende mehr ist als ein Schlagwort.

Ob die Normandie diesen Balanceakt schafft? Das Meer wird es zeigen.

Autor: Andreas M. Brucker

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