Wenn in Südfrankreich die Himmel aufreißen und die Wolken ihre Schleusen öffnen, wird aus Idylle schnell Albtraum. Nîmes kennt dieses Szenario allzu gut: Die Flutkatastrophe von 1988, bei der binnen weniger Stunden große Wassermassen durch die Straßen schossen, hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Seither arbeitet die Stadt daran, solche Ereignisse nicht nur zu überleben – sondern ihnen dauerhaft die Stirn zu bieten.
Jetzt geht Nîmes in die Vollen: Mit einem 113-Millionen-Euro-Projekt will die Metropole die Wassermassen künftig besser zähmen. Tunnel, Rückhaltebecken, Dämme – alles, was sich bauen lässt, wird gebaut. Ziel: maximale Resilienz durch technische Höchstleistung. Klingt nach Science-Fiction, ist aber französischer Hochwasserschutz im Hier und Jetzt.
Riesentunnel unter der Stadt: Wasser bekommt eine neue Route
Der spektakulärste Teil des Projekts – offiziell „PAPI 3 Vistre“ genannt – spielt sich dort ab, wo man ihn nicht sieht: tief unter den Straßen von Nîmes. Zwei gewaltige unterirdische Galerien werden die Wassermengen der Cadereaux d’Uzès und des Limites ableiten. Jeder dieser Tunnel ist 3,3 Meter im Durchmesser und etwa 2,5 Kilometer lang. Das Ziel? Das Zehnfache der bisherigen Wassermenge durchzuleiten – statt acht nunmehr 80 Kubikmeter pro Sekunde.
Das ist mehr als ein bauliches Upgrade – das ist eine neue Wasserstraße. Die Tunnels enden im Stadtteil Talabot, wo das Wasser sicher abgeleitet werden kann, ohne die Oberfläche zu überfluten. Im Herbst 2025 wurde der Durchbruch im Tunnel des Cadereau des Limites gefeiert. Doch der Jubel war nur eine Zwischenetappe – bis 2026 stehen noch komplexe Anschlussarbeiten bevor.
Ein alter Trick in neuem Gewand: Der „Tunnel de dérivation“, also ein unterirdischer Bypass für Überflutungen, ist eine bewährte Idee – aber in dieser Größenordnung und Präzision eine technische Meisterleistung.
Speichern statt überlaufen: Becken und Dämme als Sicherheitsnetz
Doch wohin mit all dem Wasser, wenn die Tunnel nicht reichen? Auch daran hat Nîmes gedacht – und riesige Rückhaltebecken gebaut. Bereits jetzt gibt es 19 Becken mit einer Gesamtkapazität von einer Million Kubikmetern. Und das Flaggschiff der Anlage trägt einen passenden Namen: der „Bassin des Antiquailles“. Auf dem Gelände eines früheren Steinbruchs wurde ein Becken geschaffen, das 1,8 Millionen Kubikmeter Wasser fassen kann – das entspricht 720 olympischen Schwimmbecken.
Zusätzlich entstehen in den höher gelegenen Gebieten des Vistre-Beckens 18 sogenannte „barrages écrêteurs“ – Dämme, die Hochwasserwellen bremsen und ihr Volumen reduzieren. Auch sie bringen gemeinsam 800.000 Kubikmeter Speicherplatz in Stellung.
Die Idee ist simpel, aber effektiv: Je mehr Wasser man frühzeitig zurückhält oder ableitet, desto geringer die Gefahr, dass es später in den Straßen von Nîmes wütet.
Drei Säulen für ein stabiles System
Das Konzept beruht auf drei Prinzipien: verlangsamen, speichern, umleiten. Diese kombinierte Strategie soll ausreichen, um auch bei heftigen Regenfällen die Stadt trocken zu halten. Knapp 34.000 Menschen und rund 12.000 Arbeitsplätze sollen durch das neue System geschützt werden.
Nîmes verabschiedet sich damit von der Idee, nur zu reparieren, wenn der Regen vorbei ist. Stattdessen will die Stadt Hochwasser strukturell verhindern – und das durch präventive, technisch unterlegte Maßnahmen. Wer sich die letzten Starkregenereignisse anschaut, weiß: Das ist keine fantastische Zukunftsmusik, sondern bittere Notwendigkeit.
Aber: Ist Technik allein genug?
So ambitioniert das Vorhaben auch ist – es hat seine Grenzen. Ein solches Großprojekt in einer urbanen Umgebung ist ein logistischer Kraftakt. Tunnelbau unter bestehenden Gebäuden? Ein Risiko. Die Integration in bestehende Wasserläufe? Komplex. Und die Einhaltung von Zeit- und Budgetvorgaben? Eine ständige Herausforderung.
Zudem ist der Betrieb solcher Infrastrukturen kein Selbstläufer. Becken müssen regelmäßig gewartet werden, Dämme kontrolliert, Tunnel inspiziert. Ein verstopftes Abflussbauwerk kann zum Nadelöhr werden – und im Extremfall auch zur Gefahr.
Und schließlich stellt sich die Frage: Gewöhnt man sich zu sehr an den Schutz aus Beton? Wenn alles unter Kontrolle scheint, schwindet die Aufmerksamkeit. Naturnahe Lösungen – wie das Wiederherstellen von Auen, das Aufforsten oder der Erhalt durchlässiger Böden – dürfen nicht vergessen werden. Denn sie wirken nicht nur im Extremfall, sondern stabilisieren das Klima und den Wasserhaushalt dauerhaft.
Was passiert bei der nächsten Jahrhundertflut?
Die Anlagen von Nîmes sind ausgelegt für „starke, aber realistische“ Regenereignisse. Doch was, wenn ein echtes Jahrhundert-Unwetter kommt? Wenn das System an seine Grenzen stößt? Dann wird sich zeigen, ob die Beton-Initiative mehr war als ein symbolisches Bollwerk.
Eine Stadt auf dem Sprung zur Vorbildfunktion
Trotz aller Fragezeichen: Nîmes hat sich auf den Weg gemacht – konsequent, sichtbar und lernbereit. Wer 1988 erlebt hat, wie binnen Minuten Chaos entstand, versteht die Motivation. Jetzt, vier Jahrzehnte später, schreibt die Stadt ein neues Kapitel: eines, in dem Technik, Vorsorge und Verantwortung gemeinsam das Fundament für Sicherheit bilden.
Aber Hochwasserschutz endet nicht mit der letzten Baustelle. Er beginnt jeden Tag neu – in der Planung, im Alltag, in der Zusammenarbeit von Stadt, Bürgern und Natur. Denn selbst das beste Bauwerk bleibt am Ende ein Werkzeug. Der eigentliche Schutz entsteht durch kluge Nutzung und gemeinsames Handeln.
Autor: Andreas M. B.
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