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Am 4. November 2025 beginnt vor der Cour d’assises spéciale in Paris ein Gerichtsverfahren von historischer Tragweite: Zum ersten Mal steht in Frankreich ein multinationales Unternehmen, Lafarge SA (heute Teil des Schweizer Konzerns Holcim Ltd.), wegen des Vorwurfs der Terrorismusfinanzierung vor Gericht. Der Zementhersteller soll in den Jahren 2012 bis 2014 mehrere Millionen Euro an bewaffnete Gruppen in Syrien gezahlt haben – darunter mutmaßlich auch an den sogenannten Islamischen Staat (IS) –, um den Weiterbetrieb seiner Zementfabrik in Jalabiya zu sichern.

Geschäfte inmitten des Bürgerkriegs

Die Fakten, wie sie durch französische Untersuchungsrichter zusammengetragen wurden, sind bemerkenswert. Lafarge betrieb über seine Tochtergesellschaft Lafarge Cement Syria ein Werk im Nordosten Syriens – in einem Gebiet, das zunehmend unter Kontrolle jihadistischer Gruppen geriet. Um die Zementproduktion trotz Bürgerkrieg aufrechtzuerhalten, soll das Unternehmen Vereinbarungen mit verschiedenen bewaffneten Akteuren getroffen und Zahlungen für sichere Transportwege sowie den Erwerb von Rohstoffen geleistet haben. Gleichzeitig soll Lafarge gegen ein EU-Embargo verstoßen haben, das jegliche wirtschaftliche Kontakte mit als terroristisch eingestuften Gruppen untersagte.

Während das Unternehmen in den USA bereits 2022 ein Schuldeingeständnis abgelegt und eine Strafe von 778 Millionen Dollar akzeptiert hatte, steht in Frankreich nun die juristische und moralische Verantwortung auf dem Prüfstand. Zentral ist dabei die Frage, inwieweit multinationale Unternehmen in Konfliktzonen operieren können, ohne sich der Komplizenschaft mit Kriegsverbrechern schuldig zu machen.

Verantwortung auf mehreren Ebenen

Der Pariser Prozess geht über die persönliche Verantwortung einzelner Führungskräfte hinaus. Er ist ein Präzedenzfall für die strafrechtliche Haftung von Unternehmen als juristische Personen. Frankreich betritt damit juristisches Neuland: Zwar wurde in der Vergangenheit immer wieder über ethische Standards in der Geschäftstätigkeit von Konzernen diskutiert, doch selten kam es zu einer formellen Anklage wegen Terrorismusfinanzierung.

Die Ankläger argumentieren, dass Lafarge nicht nur fahrlässig gehandelt, sondern bewusst Risiken eingegangen sei, um seine wirtschaftlichen Interessen zu wahren – auch um den Preis der Zusammenarbeit mit jihadistischen Gruppen. Die Verteidigung hingegen verweist auf die chaotischen Zustände im syrischen Bürgerkrieg, die Notwendigkeit zum Schutz der Angestellten und eine dezentrale Entscheidungsstruktur, die das Wissen der Pariser Konzernzentrale über die Vorgänge vor Ort in Frage stellt.

Unternehmen zwischen Recht und Realität

Der Fall Lafarge wirft ein Schlaglicht auf die Grauzonen globalisierter Wirtschaftstätigkeit. Immer mehr Unternehmen agieren in geopolitisch fragilen Regionen – sei es aus strategischem Kalkül, sei es infolge von Fehleinschätzungen. Die internationale Rechtsordnung hinkt der Entwicklung oftmals hinterher: Weder das internationale Strafrecht noch die handelsrechtlichen Normen bieten bisher klare Leitlinien für das Verhalten von Unternehmen in Kriegsgebieten.

Gleichzeitig wird der Ruf nach Rechenschaftspflicht lauter. Organisationen wie Sherpa und das European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR), die im Fall Lafarge als Nebenkläger auftreten, fordern seit Jahren, dass Unternehmen zur Einhaltung menschenrechtlicher und völkerrechtlicher Standards gezwungen werden. Der Prozess könnte damit auch ein Signal an andere multinationale Akteure senden: ökonomisches Überleben darf nicht zur Rechtfertigung für Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden.

Ein Präzedenzfall mit offenem Ausgang

Der Prozess, der bis Mitte Dezember 2025 angesetzt ist, wird nicht nur juristisch, sondern auch politisch aufmerksam verfolgt. Frankreichs Justiz betritt mit der Anklage Neuland – mit potenziell weitreichenden Folgen für Compliance-Systeme, Risikomanagement und Konzernverantwortung. Sollte es zu einer Verurteilung kommen, könnte dies eine Neubewertung der unternehmerischen Tätigkeit in Krisenregionen weltweit nach sich ziehen.

Unabhängig vom Urteil hat der Fall bereits eines gezeigt: Die Zeit der straflosen Geschäftstätigkeit in Kriegsgebieten neigt sich dem Ende zu. Der globale Süden – oft zugleich Rohstoffquelle und Konfliktherd – wird zunehmend zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit westlicher Unternehmen. Lafarge steht in Paris nicht nur vor Gericht. Es steht symbolisch für ein ganzes Wirtschaftsmodell.

Autor: P. Tiko

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