Tag & Nacht




Frühling – die einen lieben ihn, die anderen schniefen sich durch. Kaum sprießen die ersten Knospen, greifen Millionen Menschen zu Taschentüchern, Augentropfen und Antihistaminika. Die allergische Reaktion auf Pollen gehört für viele zum Alltag wie der Wetterbericht. Doch eine Theorie bringt neuen Wind in die Debatte: Haben Städte ungewollt unsere Beschwerden verschlimmert, weil sie lieber männliche Bäume pflanzen?

Ein absurder Gedanke? Keineswegs. Der Begriff „botanischer Sexismus“ steht für ein städtisches Pflanzprinzip, das überraschend tief in unsere Atemwege eingreift.


Von Blüten, Bäumen und biologischem Bias

Hinter dem Begriff steckt der amerikanische Gärtner und Buchautor Thomas Ogren. In den 1950ern empfahl das US-Landwirtschaftsministerium, in Städten bevorzugt männliche Bäume zu pflanzen – weibliche Exemplare galten als „lästig“, weil sie Früchte und Samen auf Gehwege regnen ließen. Die Folge: eine urbane Flora, die mehr Pollen produziert, als unseren Schleimhäuten lieb ist.

Ogren entwickelte daraufhin die sogenannte OPALS-Skala (Ogren Plant Allergy Scale), um Pflanzen nach ihrem allergenen Potenzial zu bewerten. Seine Kritik: Durch den Überhang an männlichen Pflanzen wird nicht nur das Stadtbild geformt – sondern auch unser Immunsystem auf Trab gehalten.


Klingt logisch – aber ist es auch korrekt?

Nicht alle Forschenden stimmen Ogren zu. Eine Analyse aus Wisconsin weist darauf hin, dass viele Stadtbäume gar nicht strikt männlich oder weiblich sind. Stattdessen besitzen sie sowohl männliche als auch weibliche Blüten – sogenannte „monözische“ oder „zwittrige“ Arten. Da wird die Debatte um männliche Vorherrschaft im Baumreich gleich ein bisschen… holpriger.

Zudem betonen Studien der McGill University: Es gibt keinen stichhaltigen Beweis, dass das gezielte Pflanzen männlicher Bäume tatsächlich messbar mehr Allergien auslöst. Luftverschmutzung, Klimawandel und der verlängerte Pollenflugzeitraum könnten hier größere Rollen spielen – oder etwa nicht?


Und was passiert in Kanada?

Ein Blick nach Montréal zeigt, wie komplex die Realität ist. Dort forscht die Biologin Sarah Tardif daran, welche Bäume die schlimmsten Pollenverteiler sind. Spannend: Arten wie die Birke – zahlenmäßig kaum vertreten – senden massenhaft Pollen auf Wanderschaft. Die Stadtverwaltung gibt an, bei Baumpflanzungen selten auf das Geschlecht zu achten, es sei denn, man will das Herunterfallen von Früchten vermeiden.

Heißt: Nicht der Baum an sich ist das Problem – sondern wie und wo er steht, was er ausstößt und in welchem Umfeld er wächst.


Die Lösung? Mehr Vielfalt statt Gender-Debatte

Statt in eine Geschlechterdiskussion über Bäume zu verfallen, setzen Fachleute auf Artenvielfalt. Wenn Städte nicht nur eine Handvoll Pollenproduzenten pflanzen, sondern eine bunte Mischung aus unterschiedlichen, möglichst wenig allergenen Arten, könnte sich die Situation deutlich entspannen.

Außerdem spielt auch der Klimawandel kräftig mit: Höhere Temperaturen verlängern die Pollenzeit, CO₂ fördert das Pflanzenwachstum – was letztlich zu noch mehr Pollen führt. Eine allergene Spirale, die nicht allein durch botanischen Sexismus zu stoppen ist.


Ein Staubkorn Wahrheit?

Also – ist die Theorie kompletter Quatsch? Nicht unbedingt. Dass männliche Bäume mehr Pollen verbreiten, ist biologisch korrekt. Dass Städte sie oft bevorzugen, ebenfalls. Aber ob dieser Zusammenhang allein für unsere triefenden Nasen verantwortlich ist? Eher unwahrscheinlich.

Die Realität ist komplizierter. Pollen reagieren auf viele Umweltfaktoren. Schadstoffe wie Stickstoffdioxid oder Feinstaub können sie aggressiver machen – sie heften sich an die Partikel, gelangen tiefer in die Lunge. Dazu kommt: Wer ohnehin empfindlich reagiert, spürt jede Veränderung im Pollenmix sofort.


Der Weg zu gesünderen Städten

Wenn wir ernsthaft etwas gegen die Allergiewelle tun wollen, reicht es nicht, das Geschlecht der Bäume zu zählen. Stattdessen braucht es:

  • kluge Stadtplanung mit Fokus auf Diversität
  • Auswahl von weniger allergenen Arten
  • Begrünung auch vertikaler Flächen
  • Reduktion von Luftverschmutzung
  • mehr Forschung zur Pollenverteilung und -wirkung

Wäre es nicht großartig, wenn Stadtbewohner in Zukunft nicht mehr zwischen Naturgenuss und Atemnot wählen müssten?


Fazit ohne Floskel

„Botanischer Sexismus“ ist ein eingängiges Schlagwort – aber kein Allheilmittel zur Erklärung von Heuschnupfen. Dennoch lenkt es den Blick auf ein echtes Problem: die oft einseitige Begrünung unserer Städte. Viel entscheidender als das Geschlecht der Bäume ist jedoch ihr Zusammenspiel mit Luftqualität, Klima und unserer Gesundheit.

Wenn wir urbane Räume schaffen, die grüner, vielfältiger und gesünder sind – profitieren alle. Und vielleicht wird der Frühling dann nicht nur schöner, sondern auch ein bisschen schnupfenfreier.

Von Andreas M. Brucker


Quellen:

  • McGill University: „Is Botanical Sexism Really to Blame for Increased Pollen Allergies?“
  • Noovo Info: „Vos allergies saisonnières sont-elles dues au sexisme botanique?“
  • United Allergy Services: „Botanical Sexism: Does it impact allergy sufferers?“
  • Wisconsin DNR Forestry News: „Botanical Sexism – Fact or Fiction?“
  • Atlantanewsfirst.com: „Is ‘botanical sexism’ to blame for Atlanta’s brutal pollen season?“

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!