Tag & Nacht




Mit der Wahl von Friedrich Merz zum zehnten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland beginnt ein neues Kapitel in den deutsch-französischen Beziehungen. Aus französischer Perspektive bietet sich die Gelegenheit, die strategische Partnerschaft mit Berlin neu zu beleben – in Zeiten geopolitischer Spannungen und wirtschaftlicher Herausforderungen ein dringend benötigtes Signal europäischer Handlungsfähigkeit.

Deutschland hat gewählt, wenn auch nicht ohne Zögern. Der erste Wahlgang im Bundestag brachte nicht das erwartete Ergebnis: Friedrich Merz verfehlte mit 310 Stimmen die absolute Mehrheit (316 Stimmen) – ein historischer Moment, der Fragen nach der Geschlossenheit seiner Regierungskoalition aufwarf. Erst im zweiten Wahlgang konnte sich der Vorsitzende der CDU mit 325 der abgegebenen Stimmen durchsetzen. Damit endet eine Phase der Unsicherheit, die nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris mit Sorge verfolgt wurde. Emmanuel Macron, der französische Staatspräsident, hatte früh erkennen lassen, dass er in Merz einen verlässlichen Gesprächspartner sieht – ideologisch konservativ, wirtschaftsliberal und transatlantisch orientiert, aber zugleich ein überzeugter Europäer.

Ein konservativer Kurs mit europäischem Anspruch

Frankreich blickt mit einer Mischung aus Hoffnung und Wachsamkeit auf den neuen Kanzler. Merz verkörpert einen wirtschaftsliberalen Kurs, der auf fiskalische Disziplin und marktwirtschaftliche Reformen setzt. In Paris wird dieser Kurs grundsätzlich begrüßt, solange er mit einer europäischen Perspektive einhergeht. Denn die Herausforderungen, vor denen der Kontinent steht – von der industriellen Wettbewerbsfähigkeit bis zur strategischen Autonomie – verlangen gemeinsame Antworten.

Die Handschrift Merz’ wird auch die wirtschaftspolitische Ausrichtung Europas prägen. Paris erwartet von Berlin keine Rückkehr zu einer rigiden Austeritätspolitik, sondern eine konstruktive Mitgestaltung einer Wachstumsagenda. Das deutsch-französische Tandem könnte hier Impulse setzen – etwa in der Frage eines neuen europäischen Investitionsfonds oder bei der Umsetzung des Green Deal. Die Bereitschaft, Investitionen in Digitalisierung, Energieinfrastruktur und Verteidigung gemeinsam zu schultern, gilt als Gradmesser für die Zukunftsfähigkeit der Union.

Ein Antrittsbesuch mit Signalwirkung

Dass Friedrich Merz bereits am Tag nach seiner Wahl in Paris empfangen wird, ist kein diplomatischer Zufall, sondern ein gezieltes Signal: Der Élysée-Palast will die enge Abstimmung mit dem Kanzleramt von Beginn an institutionalisieren. Macron setzt damit auf Kontinuität im bilateralen Verhältnis – ungeachtet des parteipolitischen Wechsels in Berlin. In den vergangenen Jahren hatten sich unter Olaf Scholz und Macron zwar zahlreiche Kontakte ergeben, doch fehlte es nicht selten an politischer Synchronität. Nun eröffnet sich die Möglichkeit zu einem Neuanfang.

Im Zentrum der Gespräche dürfte die europäische Sicherheitsarchitektur stehen. Vor dem Hintergrund der fortgesetzten Instabilität an Europas Grenzen, insbesondere durch die russische Aggression in der Ukraine, ist eine engere militärische Kooperation unvermeidlich. Frankreich hofft auf deutsche Unterstützung für eine stärkere europäische Verteidigung – sowohl finanziell als auch strategisch. Merz, der sich in der Vergangenheit deutlich für eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben ausgesprochen hat, dürfte hier gesprächsbereit sein.

Zwischen Pragmatismus und Ambition

Die innenpolitische Lage in Deutschland bleibt jedoch fragil. Die neue Koalition unter Führung von CDU und SPD ist ein Zweckbündnis, getragen weniger von gemeinsamer Vision als von politischem Kalkül. Paris ist sich bewusst, dass der Handlungsspielraum des Kanzlers durch Koalitionsdisziplin und parteiinterne Machtgefüge begrenzt ist. Doch Merz gilt als erfahrener Stratege, der mit politischem Instinkt und ökonomischer Expertise ausgestattet ist. Für Macron bietet sich damit die Möglichkeit, zentrale Projekte europäischer Integration mit neuem Elan anzugehen.

Besondere Aufmerksamkeit gilt in Paris auch der Haltung der neuen Bundesregierung zur Reform der EU-Institutionen. Während Frankreich sich für ein Mehrheitsprinzip in der Außenpolitik starkmacht, steht Deutschland traditionell für Konsenslösungen. Hier könnte Merz – wenn auch vorsichtig – Bewegung in festgefahrene Strukturen bringen. Ein möglicher Kompromiss könnte in sektoralen Mehrheitsentscheidungen liegen, etwa in der Entwicklungshilfe oder bei Sanktionsregimen.

Eine neue Dynamik für Europa

Die Wahl von Friedrich Merz markiert nicht nur einen Wendepunkt in der deutschen Innenpolitik, sondern hat auch das Potenzial, Europa neue Dynamik zu verleihen. In einer Phase, in der die Europäische Union vor nie dagewesenen Herausforderungen steht – von der globalen wirtschaftlichen Neuordnung über den Klimawandel bis hin zur Verteidigung ihrer Werte – ist die deutsch-französische Zusammenarbeit wichtiger denn je. Macron und Merz haben nun die Chance, diesen Anspruch mit Leben zu füllen.

Ihr morgiges Treffen in Paris könnte dabei zum Auftakt einer neuen Etappe europäischer Politik werden: geprägt von Pragmatismus, strategischem Denken und der Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Die Voraussetzungen sind gegeben – es liegt an beiden Seiten, sie zu nutzen.

Von Andreas Brucker

Wir empfehlen das neue E-Book von Nachrichten.fr: Emmanuel Macron und Friedrich Merz – Ein Neuanfang für Europa?

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!