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Während die russischen Angriffe auf ukrainische Städte unvermindert anhalten, richtet Europa den Blick bereits auf die Zeit danach. In Rom diskutieren Staats- und Regierungschefs, Unternehmen und Vertreter der Zivilgesellschaft dieser Tage über die langfristige Rekonstruktion eines Landes, dessen wirtschaftliche, soziale und infrastrukturelle Grundlagen im dritten Kriegsjahr schwer beschädigt sind.

Rund 5.000 Teilnehmer aus 100 Regierungsdelegationen, 40 internationalen Organisationen und 2.000 Unternehmen nehmen an der 7. Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine teil, die am 10. Juli begann. Sie gilt als die bislang umfassendste Konferenz und soll – so die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni – „eine Basis für Frieden schaffen, der keine Kapitulation ist“.

Vom Wirtschaftsforum zur Notfallplanung

Die Tradition der Ukraine-Wiederaufbaukonferenzen reicht bis 2017 zurück, als London erstmals ein Wirtschaftsforum zur Unterstützung ukrainischer Reformen veranstaltete. Nach Stationen in Kopenhagen (2018), Toronto (2019) und Vilnius (2020) verschob sich der Fokus ab Lugano 2022: Statt rein wirtschaftspolitischer Agenden rückte die akute Kriegszerstörung ins Zentrum. Die Folgetreffen in London (2023), Berlin (2024) und nun Rom 2025 stehen daher unter dem Zeichen einer umfassenden Rekonstruktion.

Die diesjährige Konferenz strukturiert sich um vier zentrale Themenfelder: die Rolle des Privatsektors, die künftige europäische Integration der Ukraine, den Wiederaufbau von Städten und Regionen sowie die langfristige gesellschaftliche Entwicklung. Konkret reichen die Diskussionsfelder von Makroökonomie, Infrastruktur und Bildung bis hin zu Klima, Innovation und Geschlechtergerechtigkeit.

Für die EU bleibt die physische Infrastruktur prioritär. Straßen, Brücken, Wohngebäude und das Bauwesen insgesamt stehen im Zentrum kurzfristiger Hilfsmaßnahmen, während mittel- und langfristig Bildung, Gesundheit und wirtschaftliche Transformation tragende Säulen bilden sollen.

Kosten von über 500 Milliarden Euro erwartet

Nach Schätzungen der UN belaufen sich die notwendigen Investitionen für den vollständigen Wiederaufbau auf mindestens 500 Milliarden Euro über die nächsten zehn Jahre. Allein zur Entschädigung zerstörter privater Immobilien hat Kiew seit 2023 mehr als 25 Milliarden Euro aus einem nationalen Wiederaufbaufonds ausgezahlt.

Besonders betroffen sind die Regionen Kharkiv (16 % aller zerstörten Häuser), Donezk (14 %), Sumy (8 %), Luhansk (7 %) und Odessa (2 %). Insgesamt konzentrieren sich über 70 % der Schäden auf die Städte Donezk, Charkiw, Luhansk, Saporischja, Cherson und Kiew. Neben Wohnraum sind Transport, Industrie und Landwirtschaft die am stärksten betroffenen Wirtschaftssektoren.

Europa als Hauptfinanzier – mit ungleicher Lastenteilung

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 haben die EU und ihre Mitgliedstaaten der Ukraine finanzielle, wirtschaftliche und humanitäre Hilfen in Höhe von rund 159 Milliarden Euro gewährt, davon etwa zwei Drittel als nicht rückzahlbare Subventionen oder Sachleistungen.

In Relation zu ihrer Wirtschaftsleistung tragen die baltischen Staaten und Skandinavien überproportional bei: Estland mit 2,2 % des BIP, Dänemark mit 2,17 %, Litauen mit 1,8 %, Lettland mit 1,5 % und Finnland mit 0,9 %. Deutschland liegt mit 0,4 % deutlich darunter, Frankreich mit 5 Milliarden Euro an Hilfen rangiert zwar unter den größten Gebern in absoluten Zahlen, relativ zum BIP jedoch nur auf Platz 18 innerhalb der EU. Spanien und Italien liegen mit jeweils 0,11 % des BIP im unteren Mittelfeld, Ungarn bleibt mit 0,03 % nahezu symbolisch beteiligt.

Frankreich setzt auf strategische Partnerschaften

Paris hat ergänzend einen eigenen Wiederaufbaufonds über 200 Millionen Euro aufgelegt und daraus bislang 17 Unternehmen für insgesamt 19 Projekte in fünf strategischen Bereichen ausgewählt: Gesundheit, Wasser, Energie, Minenräumung und Infrastruktur. Unter den Beteiligten sind große Konzerne wie EDF, Saint-Gobain und General Electric, aber auch zehn mittelständische Unternehmen, die technisches Know-how und regionale Netzwerke einbringen.

Kommunale Allianzen als langfristiger Hebel

Eine zunehmend bedeutende Rolle spielt die „Europäische Allianz der Städte und Regionen für den Wiederaufbau der Ukraine“, die beim Europäischen Ausschuss der Regionen angesiedelt ist. Über ein neues „One-Stop-Shop“-System, beschlossen am 15. Mai in Brüssel, sollen künftig über tausend Partnerschaften zwischen europäischen und ukrainischen Städten etabliert werden. Exemplarisch hierfür ist ein während der Rom-Konferenz unterzeichneter Vertrag zwischen den Städten Kassel und Schytomyr.

Politische Dimensionen: Meloni positioniert Italien

Für Italiens Premierministerin Giorgia Meloni ist die Konferenz nicht nur ein humanitärer, sondern auch ein strategisch-politischer Meilenstein. Sie will damit die klare pro-ukrainische Haltung ihres Landes unterstreichen – auch um sich von Regierungschefs wie Viktor Orbán (Ungarn) oder Robert Fico (Slowakei) auf der europäischen Rechten abzugrenzen. Bereits bei Selenskyjs Besuch in Rom am 18. Mai hatte sie erklärt: „Die Ukraine ist nicht allein. Wir werden an ihrer Seite stehen, so lange es nötig ist.“

Tatsächlich geht es nicht allein um moralische Solidarität, sondern um ein zentrales geopolitisches Ziel Europas: Die Ukraine durch umfassende wirtschaftliche und gesellschaftliche Stärkung zu stabilisieren – und sie so langfristig als integralen Teil der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung zu verankern.

Autor: P. Tiko

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