Am 14. Juli erinnert Frankreich an den Sturm auf die Bastille und feiert die Geburtsstunde seiner Republik. Es ist ein Tag des nationalen Selbstbewusstseins, der Freiheit, der republikanischen Werte. Doch in diesem Jahr steht weniger das Feiern im Vordergrund als das Absichern. Fast 13.000 Polizisten und Gendarmen sind im Einsatz – mehr als bei einem Gipfeltreffen internationaler Staatschefs. Frankreich feiert sich selbst – und schützt sich gleichzeitig vor sich selbst. Was sagt das über den Zustand der Nation aus?
Ausnahmezustand im Regelbetrieb
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: 45.000 Sicherheitskräfte landesweit, allein 12.500 davon in Paris, dazu militärische Spezialeinheiten, Drohnenüberwachung und mobile Eingreifreserven. Die Regierung begründet das alles mit der Notwendigkeit, auf Terrorgefahr, politische Spannungen und das Risiko gewaltsamer Ausschreitungen vorbereitet zu sein. Doch das Ausmaß dieses Sicherheitsaufgebots verweist auf etwas Tieferliegendes: eine strukturelle Verunsicherung des Staates.
Der Ausnahmezustand ist zum Dauerzustand geworden. Was vor Jahren noch als Reaktion auf akute Bedrohungen erschien – islamistischer Terror, Gelbwestenproteste, soziale Unruhen – hat sich in eine neue Normalität verwandelt. Frankreichs Republik wird nicht mehr nur symbolisch, sondern buchstäblich verteidigt.
Die politische Sprache der Sicherheitsarchitektur
Die staatliche Präsenz bei öffentlichen Großereignissen ist längst mehr als bloßer Schutzmechanismus. Sie ist eine politische Sprache – eine Demonstration staatlicher Handlungsfähigkeit, ein Versuch, Kontrolle auszustrahlen in einer Gesellschaft, in der viele Bürger an genau dieser Kontrolle zweifeln. Präsident Emmanuel Macron setzt bewusst auf diese Symbolik. Der republikanische Feiertag wird zur Bühne der staatlichen Autorität. Panzerfahrzeuge, Elitepolizei, Überwachung – dies alles soll Vertrauen schaffen, schafft aber auch Distanz.
Zugleich ist das Sicherheitsdispositiv Ausdruck wachsender Unübersichtlichkeit. Frankreich sieht sich konfrontiert mit einer Gemengelage aus sozialen Spannungen in den Banlieues, wachsendem Einfluss extremistischer Bewegungen von links wie rechts, importierten geopolitischen Konflikten und einer tiefen institutionellen Erschöpfung. Die Polizei schützt nicht nur vor äußeren Gefahren, sondern vor einem inneren Zerfall.
Eine Gesellschaft im permanenten Alarmzustand
Die französische Gesellschaft ist gespalten – und zunehmend erschöpft. Die Proteste gegen Rentenreformen, die Wut über soziale Ungleichheit, die Eskalation nach Polizeigewalt in Vororten: All dies hat das Vertrauen in die Institutionen erschüttert. Gleichzeitig wächst der Wunsch nach Sicherheit – ein Widerspruch, der sich in der paradoxen Lage verdichtet, dass der Staat sich beim Fest seiner eigenen Emanzipation von monarchischer Gewalt hinter martialischer Ordnungsmacht verbarrikadiert.
Frankreich scheint in der eigenen republikanischen Erzählung gefangen. Die Ideale der Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – sind nach wie vor präsent, aber in den gelebten Alltag vieler Bürger kaum noch übersetzbar. Während sich die Eliten auf symbolische Gesten der Einheit konzentrieren, erleben viele Menschen ein Gefühl wachsender Ohnmacht. Das Vertrauen in Politik, Verwaltung und Justiz ist brüchig. Die nationale Feier wird zum Prüfstein gesellschaftlicher Kohäsion – und zeigt deren Risse.
Europas Vorreiter in der Verunsicherung
Im europäischen Vergleich steht Frankreich exemplarisch für eine Demokratie, die sich im Angesicht multipler Krisen neu erfinden muss. Der starke Zentralstaat, einst Garant republikanischer Stabilität, wirkt zunehmend wie ein Koloss auf tönernen Füßen. Seine Schlagkraft ist unbestritten, seine Integrationsfähigkeit jedoch begrenzt. Der Einsatz von Tausenden Sicherheitskräften am Nationalfeiertag ist deshalb nicht nur französische Folklore, sondern ein Warnzeichen. Er dokumentiert die Unfähigkeit, gesellschaftliche Konflikte politisch zu lösen – und ersetzt sie durch operative Kontrolle.
Dabei bleibt die Frage offen, wie lange sich ein Gemeinwesen über Kontrolle stabilisieren lässt, ohne seine normative Grundlage zu verlieren. Der 14. Juli war einst ein Aufbruch – heute wirkt er wie eine Schutzmaßnahme gegen die eigene Vergangenheit und die ungewisse Zukunft.
Frankreich feiert weiter seine Republik – doch der Klang dieses Festes ist leiser geworden. Wo einst Hoffnung auf Freiheit herrschte, dominiert heute der Sound von Sirenen, Drohnen, Marschschritten. Der Nationalfeiertag ist noch da – aber die Nation, die ihn hervorgebracht hat, scheint sich in einem tiefgreifenden Selbstfindungsprozess zu befinden. Was bleibt, ist ein Land im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Angst – und die Erkenntnis, dass Freiheit ohne Vertrauen nicht zu haben ist.
Autor: Andreas M. Brucker
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