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Ein französischer Ökonom, ein bahnbrechendes Modell und eine Auszeichnung mit politischer Sprengkraft: Philippe Aghion, Jahrgang 1956, hat am 13. Oktober 2025 gemeinsam mit Peter Howitt und Joel Mokyr den sogenannten Wirtschafts-Nobelpreis erhalten. Der Titel der gewürdigten Arbeit klingt nüchtern – „Theorie des nachhaltigen Wachstums durch kreative Zerstörung“ – doch ihr Inhalt ist brisanter denn je. Denn Aghions Denkansatz stellt die zentrale Frage, die Europa gerade schmerzlich beschäftigt: Wie bleibt eine Wirtschaft innovativ – ohne sich selbst zu verlieren?

Wer ist dieser Mann, der dem abstrakten Begriff „Wachstum“ neues Leben eingehaucht hat?

Geboren in Paris, ausgebildet in Frankreich und den USA, gehört Aghion heute zu den weltweit einflussreichsten Ökonomen. Er lehrt am Collège de France, an der London School of Economics und an INSEAD. Mit Peter Howitt entwickelte er in den 1990er Jahren ein neues Verständnis davon, wie wirtschaftlicher Fortschritt entsteht – nicht trotz, sondern gerade wegen des ständigen Umbruchs.

Klingt ungemütlich? Ist es auch.

Denn Aghions Theorie basiert auf einem Konzept, das einst der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter prägte: „kreative Zerstörung“. Dahinter steckt die Idee, dass Innovationen bestehende Unternehmen, Technologien und Geschäftsmodelle verdrängen – und genau dadurch Wachstum erzeugen. Alte Strukturen brechen auf, neue entstehen. Fortschritt ist kein sanftes Dahingleiten, sondern ein ständiger Kampf zwischen Bestehendem und Neuem.

Was Aghion und Howitt leisten, ist die Übersetzung dieses Prinzips in ein ökonomisches Gesamtmodell: Sie zeigen, wie Innovationen entstehen, welche Rolle Wettbewerb, Forschung und institutionelle Rahmenbedingungen dabei spielen – und warum Wachstum kein externer Zufallstreffer ist, sondern im Inneren der Wirtschaft angelegt.

Ein Quantensprung gegenüber älteren Theorien, die technologischen Fortschritt als „gegeben“ betrachten.

In der Praxis bedeutet das: Wenn eine Volkswirtschaft langfristig erfolgreich sein will, muss sie den Nährboden für Innovation schaffen. Sie muss bereit sein, Bestehendes in Frage zu stellen, Experimente zuzulassen und Rückschläge zu verkraften. Das verlangt Risikobereitschaft – aber auch kluge Steuerung.

Der Nobelpreis ehrt genau diesen Denkansatz – und kommt zur rechten Zeit.

Denn Europa steht unter Druck. Die USA dominieren Technologiefelder wie Künstliche Intelligenz, China zieht mit massiver staatlicher Förderung nach. Und Europa? Hängt oft hinterher. Aghion warnt seit Jahren davor, dass fehlende Dynamik, Überregulierung und zersplitterte Märkte den Kontinent lähmen. In Interviews formuliert er es klar: „Wir dürfen den Anschluss nicht verlieren.“

Was also tun?

Aghions Rezepte sind deutlich: mehr Geld für Forschung und Entwicklung, bessere Bedingungen für Start-ups, eine entschlackte Bürokratie, funktionierende Märkte für Risikokapital. Und eine Politik, die nicht nur reagiert, sondern gestaltet. Innovation braucht Freiheit – aber auch Richtung.

Und sie braucht Gerechtigkeit. Denn hier wird die Theorie politisch.

Aghion betont immer wieder, dass kreative Zerstörung nicht nur Gewinner hervorbringt. Wenn alte Industrien verschwinden, verlieren Menschen ihre Jobs. Wenn neue Technologien entstehen, brauchen sie Qualifikationen, die nicht jeder mitbringt. Wachstum durch Wandel ist kein Selbstläufer – es kann auch tiefe Risse hinterlassen.

Genau hier liegt der Nerv der Debatte: Wie schafft man ein Gleichgewicht zwischen Dynamik und sozialer Stabilität?

Für Frankreich ist Aghions Auszeichnung mehr als ein persönlicher Triumph. Sie ist ein Signal: Die französische Ökonomie hat international Gewicht. Und sie hat Stimmen, die mehr wollen als nur akademische Modelle – sondern konkrete Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit.

Vielleicht erklärt das auch, warum sich Aghion zunehmend politisch äußert. In den letzten Monaten plädierte er öffentlich für ein Moratorium bei der umstrittenen Rentenreform – nicht aus ökonomischen Gründen, sondern um einer möglichen Machtübernahme des rechtspopulistischen Rassemblement National vorzubeugen. Ein ungewöhnlicher Schritt für einen Wissenschaftler – aber typisch für Aghion, der die ökonomische Theorie nie losgelöst von der gesellschaftlichen Realität betrachtet.

Man mag seine Vorschläge teilen oder kritisieren – unstrittig ist: Aghions Denken trifft einen Nerv.

Denn letztlich steht Europa vor der Frage: Wie können wir innovativ sein, ohne unser soziales Gefüge zu verlieren? Wie gestalten wir Wandel – bevor er uns überrollt?

Philippe Aghion gibt darauf keine einfachen Antworten. Aber er liefert das theoretische Fundament, auf dem neue Antworten gebaut werden können.

Ein Nobelpreis mit Substanz. Und mit Auftrag.

Von C. Hatty

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