Am 1. Juni 2025 hat Polen einen neuen Präsidenten gewählt – und die politische Landschaft damit kräftig durchgeschüttelt. Karol Nawrocki, ein 42-jähriger Historiker mit nationalkonservativem Profil, setzte sich mit hauchdünnem Vorsprung von 50,89 Prozent gegen den pro-europäischen Amtsanwärter Rafał Trzaskowski durch. Ein Wahlausgang, der so knapp war, dass er wie mit dem Lineal gezogen scheint – und dennoch reicht, um das Land vor eine Herausforderung zu stellen.
Der Historiker, der plötzlich Geschichte schreibt
Vor einem Jahr kannten ihn nur wenige außerhalb konservativer Kreise. Heute ist Karol Nawrocki der Präsident eines der einflussreichsten Länder Osteuropas. Ein klassischer Polit-Aufsteiger war er nie: Zunächst Leiter des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, später Präsident des Instituts für Nationales Gedenken – stets mit einem Hang zur historischen Selbstvergewisserung und einem ausgeprägten Nationalstolz.
Sein Wahlkampfslogan „Polen zuerst, die Polen zuerst“ war keine hohle Phrase, sondern Programm. Er sprach denjenigen aus dem Herzen, die sich vom politischen Establishment übergangen fühlen – besonders auf dem Land und in kleineren Städten. Nawrocki versprach klare Kante: Weniger Brüssel, mehr Warschau. Weniger Elite, mehr Volk. Und: ein strengerer Umgang mit Migranten, insbesondere mit Geflüchteten aus der Ukraine.
Ein Präsident, der Tusk das Regieren schwer machen dürfte
Wer glaubt, das polnische Präsidentenamt sei nur repräsentativ, täuscht sich gewaltig. Der Präsident hat das letzte Wort – durch sein Vetorecht. Und Nawrocki könnte davon kräftig Gebrauch machen. Premierminister Donald Tusk, der eine liberale Koalition anführt, dürfte seine liebe Mühe haben, mit dem neuen Staatschef zusammenzuarbeiten.
Gerade bei Themen wie Justizreform, Gleichstellung oder Migrationspolitik könnten bald Blockaden entstehen. Nawrocki hat deutlich gemacht, dass er vieles rückgängig machen will, was Tusk aufgebaut hat. Die Frage, ob er Polen von Europa entfremden oder nur eigenständiger positionieren will, bleibt offen – doch die ersten Signale sind eindeutig.
Er wolle, so sagte Nawrocki kürzlich, „die Zusammenarbeit mit konservativen Staatschefs wie Viktor Orbán oder Donald Trump intensivieren“. Das klingt mehr nach einer Achse der Nationalisten als nach europäischem Schulterschluss.
Zwei Welten, ein Land
Die Wahl hat tiefe Gräben offengelegt. Während junge, urbane Wähler mehrheitlich für Trzaskowski stimmten, fanden Nawrockis Botschaften in ländlichen Regionen und bei älteren Generationen breite Zustimmung. Polen ist ein Land der Gegensätze geworden – zwischen Moderne und Tradition, zwischen Westbindung und Nationalstolz.
In Warschau, Krakau und Danzig herrscht Entsetzen. In Olsztyn, Rzeszów oder in den Karpaten dagegen feiern Menschen den „Sieg des echten Polen“. Man fühlt sich erinnert an andere Gesellschaften, die zunehmend gespalten sind – ob USA, Frankreich oder Ungarn. Die Frage ist: Wie lange hält ein Land das aus, ohne daran zu zerbrechen?
Zwischen Hoffnung und Unsicherheit
Mit Karol Nawrocki an der Spitze beginnt ein neues Kapitel – ein Kapitel, das viele mit Sorge, manche mit Hoffnung lesen. Der Präsident verspricht, Polen wieder näher an seine „wahren Wurzeln“ zu führen. Doch was bedeutet das für Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit oder Minderheitenschutz?
Brüssel wird ganz genau hinschauen. Denn in Nawrockis bisherigen Äußerungen klang durch, dass die EU nicht länger als „oberste Instanz“ für Polen gelten soll. Der Tonfall dürfte schärfer werden, der Dialog komplizierter.
Ob Nawrocki jedoch wirklich gestalten oder hauptsächlich blockieren wird, zeigt sich erst in den nächsten Monaten. Klar ist: Sein Wahlsieg war kein Zufall, sondern Ausdruck eines tiefen Wandels in der polnischen Gesellschaft. Und dieser Wandel lässt sich nicht einfach wegmoderieren.
Ein Präsident, der gestern noch Außenseiter war, heute das höchste Amt bekleidet und morgen das Schicksal Europas mitbestimmen könnte – das ist keine alltägliche Geschichte.
Oder, um es salopp zu sagen: Die polnische Politik hat einen ordentlichen Satz gemacht – und niemand weiß genau, wohin die Reise geht.
Von C. Hatty
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