Tag & Nacht




Eine mögliche direkte Begegnung zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dem russischen Staatschef Wladimir Putin würde ein geopolitisches Signal von höchster Tragweite darstellen. Sie könnte der Beginn ernsthafter Friedensgespräche sein – oder lediglich ein symbolischer Akt ohne konkrete Wirkung. Derzeit laufen die Vorbereitungen für ein Treffen, das nach Angaben aus Kiew und Washington in den kommenden zwei Wochen stattfinden soll. Offen bleibt jedoch der Ort – und gerade diese Frage offenbart die ganze Komplexität der diplomatischen Lage.


Moskau: Symbolische Dominanz des Kremls

Der Vorschlag Wladimir Putins, das Treffen in Moskau abzuhalten, stieß umgehend auf Ablehnung. Für Selenskyj wie auch für die anwesenden europäischen Staats- und Regierungschefs bei der Unterredung in Washington wäre ein solcher Rahmen kaum tragbar gewesen. In der russischen Hauptstadt aufzutreten, würde nicht nur erhebliche Sicherheitsrisiken bergen, sondern auch als symbolische Unterwerfung unter den Kreml gedeutet werden. Historisch betrachtet haben Friedensverhandlungen in den Hauptstädten aggressiver Mächte selten die nötige Legitimität entfaltet. Die Erinnerung an die sowjetische Inszenierung internationaler Gipfel im Kalten Krieg ist in Europa noch präsent – und erklärt auch die kategorische Ablehnung Kiews.


Genf: Tradition der Neutralität

Als neutraler Boden mit langer Tradition bei diplomatischer Vermittlung erscheint Genf vielen Akteuren als die plausibelste Option. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron brachte die Stadt ins Spiel – wohl auch in der Absicht, die Rolle Europas als vermittelnde Kraft zu betonen. Die Schweiz hat bereits signalisiert, dass sie Wladimir Putin trotz des laufenden Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs temporäre Immunität gewähren könnte, solange der Aufenthalt strikt an Friedensverhandlungen gebunden wäre. Völkerrechtlich wäre dies heikel, politisch aber ein gangbarer Weg, um Gespräche überhaupt zu ermöglichen.

Genf hat bereits mehrfach als Kulisse für geopolitische Gespräche gedient: vom Reagan-Gorbatschow-Gipfel 1985 bis zu den Syrien-Verhandlungen unter UN-Ägide. Insofern wäre die Stadt nicht nur neutraler Boden, sondern auch mit symbolischer Legitimität aufgeladen.


Budapest: Orbáns Brückenangebot

Eine weitere Option ist Budapest. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat mehrfach seine Bereitschaft erklärt, die beiden Staatschefs zu empfangen. Orbán pflegt seit Jahren enge Beziehungen zu Moskau und steht zugleich in gespannter Partnerschaft zur Europäischen Union. Ein Treffen in Ungarn würde eine geopolitische Ambivalenz spiegeln: Einerseits EU-Mitglied, andererseits ein Staat, der oft als „Trojanisches Pferd“ russischer Interessen in Brüssel gesehen wird.

Orbáns Rolle als Gastgeber könnte einerseits den Weg für Gespräche ebnen, da er das Vertrauen Moskaus genießt. Andererseits birgt sie das Risiko, dass ein Gipfel in Budapest als Legitimierung einer Politik wahrgenommen würde, die den Konsens der EU häufig untergräbt. Damit bliebe offen, ob ein solcher Rahmen der angestrebten Glaubwürdigkeit zuträglich wäre.


Washington: Juristische Hürden und politische Brisanz

Donald Trump, der seine internationale Vermittlerrolle unterstreichen will, hat Washington ebenfalls als möglichen Treffpunkt ins Spiel gebracht. Doch ein solches Szenario gilt aus mehreren Gründen als unwahrscheinlich. Zum einen müsste sich die amerikanische Regierung mit der Frage auseinandersetzen, wie der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin auf amerikanischem Boden zu handhaben wäre. Zum anderen wäre die innenpolitische Brisanz enorm: Ein Empfang Putins im Weißen Haus könnte auch in den USA selbst wie ein Affront gegenüber der Ukraine und deren europäischen Unterstützern wirken.

Auch in historischer Perspektive erscheint Washington wenig plausibel. Zwar fanden dort Gipfel zwischen Supermächten statt, doch meist in einem Kontext, in dem die USA selbst unmittelbare Konfliktpartei waren. In diesem Fall würde ein Treffen in Washington eine zu enge Verflechtung mit der US-Regierung signalisieren.


Diplomatische Mathematik

Die Entscheidung über den Austragungsort ist mehr als eine logistische Frage. Sie ist Ausdruck einer politischen Gleichung, in der Symbole, Völkerrecht, Sicherheitserwägungen und geopolitische Allianzen miteinander verrechnet werden. Ein Ort wie Moskau würde dem Kreml symbolisches Kapital zuspielen, Washington hingegen den Anschein einer parteiischen Vermittlung erwecken. Budapest könnte eine Brücke bieten, aber mit hohem Risiko für die Glaubwürdigkeit der EU. Genf hingegen erscheint derzeit als die einzige Bühne, die Neutralität, Erfahrung und völkerrechtliche Machbarkeit miteinander verbindet.

Ob es tatsächlich zu einem Treffen kommt – und ob dieses mehr als ein diplomatisches Schauspiel sein wird –, hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft der beiden Präsidenten ab, den symbolischen Rahmen für konkrete Zugeständnisse zu nutzen. Sollte es dazu kommen, könnte der Ort des Treffens später als erster Schritt auf einem langen Weg zum Frieden in der Ukraine in die Geschichtsbücher eingehen.

Autor: Andreas M. Brucker

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