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Am 2. April wird der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu zu einem Staatsbesuch in Ungarn erwartet – ein Besuch mit diplomatischer Sprengkraft. Denn gegen den Regierungschef Israels liegt seit November 2024 ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vor. Die Reise ist damit nicht nur Ausdruck enger bilateraler Beziehungen zwischen Israel und Ungarn, sondern auch ein Affront gegen die internationale Strafjustiz. Viktor Orbán, Ungarns Ministerpräsident und ein erklärter Unterstützer Netanjahus, hat die Entscheidung des IStGH als „beschämend“ verurteilt und dem israelischen Premier demonstrativ den Rücken gestärkt.

Eine Reise gegen den Geist des Völkerrechts

Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag hatte am 21. November 2024 Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu und den ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant ausgestellt. Die Vorwürfe: mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Kontext der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen. Die israelische Regierung wies die Anschuldigungen als „absurd“ und „antisemitisch“ zurück und legte Berufung ein.

Ungarn ist zwar Unterzeichner des Römischen Statuts, das die rechtliche Grundlage des IStGH bildet, erkennt aber dessen Bindungswirkung im eigenen Land nicht an. Das ungarische Verfassungsgericht hatte bereits kurz nach dem Beitritt 1999 entschieden, dass eine vollständige Ratifizierung mit der nationalen Verfassung nicht vereinbar sei. Somit sieht sich Budapest nicht verpflichtet, dem Haftbefehl gegen Netanjahu Folge zu leisten – was ihm die Einreise und den Aufenthalt ohne rechtliche Konsequenzen ermöglicht.

Politische Freundschaft gegen westliche Normen

Der israelische Regierungschef kann sich in Europa auf nur wenige uneingeschränkte Verbündete verlassen. Viktor Orbán gehört zweifellos dazu. Die beiden Politiker eint nicht nur eine enge persönliche Beziehung, sondern auch eine ideologische Affinität: beide betonen nationale Souveränität gegenüber internationalen Institutionen, lehnen liberale Werteordnungen ab und inszenieren sich als Verteidiger westlicher Identität gegen äußere Bedrohungen.

Ungarn hat sich in internationalen Foren immer wieder schützend vor Israel gestellt – selbst dann, wenn andere EU-Mitgliedstaaten auf Distanz gingen. So blockierte Budapest mehrfach gemeinsame EU-Erklärungen zur israelischen Siedlungspolitik oder zu Waffenruhen im Gazastreifen. Orbáns Einladung an Netanjahu ist daher keine diplomatische Routine, sondern ein klares politisches Signal: Ungarn stellt sich gegen die internationale Strafgerichtsbarkeit und stärkt dem unter Druck stehenden israelischen Premier demonstrativ den Rücken.

Europa in der Zwickmühle

Der Besuch stellt auch die Europäische Union vor ein Dilemma. Einerseits verpflichtet der Römische Vertrag alle EU-Mitglieder grundsätzlich zur Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Andererseits hat die EU bislang keine einheitliche Haltung zur rechtlichen und politischen Tragweite des Haftbefehls gegen Netanjahu entwickelt. Während Länder wie Frankreich und Deutschland die Rolle des IStGH betonen und die Entscheidung respektieren, meiden andere – vor allem in Ost- und Mitteleuropa – eine klare Positionierung.

Die geplante Visite könnte somit neue Spannungen innerhalb der EU erzeugen. Sollte Netanjahu künftig weitere Reisen nach Europa unternehmen, stünde die Frage im Raum, ob andere Mitgliedstaaten bereit wären, ihn festzusetzen – oder ob sie sich wie Ungarn auf rechtliche Grauzonen berufen würden. Der Fall erinnert an ähnliche Situationen in der Vergangenheit, etwa den Umgang mit dem sudanesischen Ex-Präsidenten Omar al-Baschir, gegen den ein internationaler Haftbefehl bestand, der jedoch in mehreren afrikanischen und arabischen Staaten folgenlos blieb.

Völkerrecht und geopolitische Realität

Die Wirksamkeit internationaler Justizmechanismen hängt nicht nur von rechtlicher Klarheit, sondern auch von politischem Willen ab. Im Fall Netanjahu zeigt sich, wie schwer es dem IStGH fällt, seine Autorität gegenüber Staatschefs von Ländern mit hoher geopolitischer Relevanz durchzusetzen. Israel ist kein Vertragsstaat des IStGH, genießt starke diplomatische Rückendeckung der USA und ist in sicherheitspolitischen Fragen ein zentraler Akteur im Nahen Osten. Seine Kooperation mit dem Gericht ist daher unwahrscheinlich.

Zudem hat die US-Regierung, ähnlich wie Ungarn, den Haftbefehl kritisiert – wenn auch mit zurückhaltender Rhetorik. Netanjahus Besuch in den Vereinigten Staaten im Februar verlief ohne diplomatische oder juristische Reibung. Die USA erkennen die Zuständigkeit des Gerichts für sich selbst nicht an und haben in der Vergangenheit sogar Sanktionen gegen IStGH-Mitarbeiter verhängt, um Ermittlungen gegen US-Soldaten zu unterbinden.

Symbolik und Realität

Der Ungarn-Besuch Netanjahus ist mehr als ein bilateraler Austausch: Er ist ein politisches Statement. Die Botschaft lautet: Internationale Institutionen haben ihre Grenzen – zumindest dort, wo souveräne Staaten sich entschließen, ihnen diese Grenzen aufzuzeigen. Für Netanjahu ist die Reise ein Zeichen von Normalität in einer Zeit internationaler Isolation. Für Viktor Orbán eine Gelegenheit, seine ablehnende Haltung gegenüber supranationalen Instanzen erneut öffentlich zu unterstreichen.

Dass dabei das Vertrauen in die internationale Strafjustiz weiter erodieren könnte, nehmen beide in Kauf. Die Autorität des IStGH steht auf dem Spiel – nicht allein durch das Verhalten Israels oder Ungarns, sondern durch die ausbleibende Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft. Ohne politische Konsequenzen bleiben selbst die bedeutendsten juristischen Beschlüsse Symbolakte.

P.T.

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